Politische Lieder mit musikalischer Tiefe
– Sich selbst neu erfinden – das scheint so etwas zu sein, was viele Künstler ab und an wollen (oder auch sollen), aber nur die wenigsten schaffen. Anohni, früher bekannt als Antony von Antony and The Johnsons, macht vor, wie es gehen kann. Ziel ihrer Neuerfindung ist es, die introspektiven Klagegesänge, mit denen man sie und ihre unverwechselbare Stimme assoziiert, umzuformen in politischen Protest. Bereits zu den Pariser Verhandlungen über einen neuen Klimavertrag Anfang des Jahres erschien vorab ihre Single „4 Degrees“. Darin geht es genau um diese vier Grad weiterer Erderwärmung, deren Verhinderung von den Großmächten während des Klimagipfels pathetisch beschlossen wurde.
Der Dreh des Songs ist ein genialer: Anohni beschreibt die apokalyptische Vision eines mordlüstigen Menschen, dem das Leiden der Tiere und der Natur nicht nur egal sind, sondern der diese in sadistischer Manier noch herbeiwünscht. „I wanna burn the sky, I wanna burn the breeze / I wanna see the animals die in the trees“ singt Ahnoni über einem fetten Beat und schwülstigen Geigen, begleitet von himmlischen Chören. Die Produktion von Hudson Mohawke and Oneohtrix Point Never kann man nicht genug loben.
Eine ähnlich starke Epiphanie wie mit „4 Degrees“ hatte ich bei dieser Künstlerin zuletzt mit „Hope There’s Someone“ aus ihrem Album „I Am A Bird Now“ – dieses Gefühl, dass man einen Song entdeckt hat, der einen ein Leben lang nicht mehr verlassen wird, dass man einem besonderen Moment beiwohnt. „Hopelessness“ als gesamtes Album ist dieser Moment, weil man sich nicht erinnern kann, wann das letzte Mal mit solcher musikalischer Tiefe politische Lieder angestimmt worden sind. Die Umkehrung der Perspektive zieht sich als Stilmittel durch das gesamte Album, wobei Anohni nicht nur gern in die Rolle anderer Personen schlüpft, sondern diese Rollen von anderen Künstlern verkörpern lässt. Im Fall des ebenso grandiosen „Drone Bomb Me“ ist dies Naomi Campbell, von der man im Video tatsächlich nicht die Augen lassen kann.
Ich habe mal gesagt – oder vielleicht auch nur gedacht oder geträumt –, dass Anohni auch das Telefonbuch vorsingen könnte und man würde ihr an den Lippen hängen. Im dieses hochaktuelle Album beschließenden „Marrow“ macht sie etwas sehr Ähnliches. Ländernamen werden aufgezählt, von Greta Britain bis Nigeria, und wir: hängen Anohni an den Lippen.
Tina Manske
Anohni: Hopelessness. Rough Trade/Beggars (Indigo). Erscheint am 6. Juni.