It’s magic!
– Gleich zu Anfang unseres Telefonats widerlegt Julia Holter ein/mein Vorurteil, nämlich dass die 1984 in Los Angeles geborene Multiinstrumentalistin, Komponistin und Sängerin aufgrund ihrer klassischen Ausbildung und der kunstvoll arrangierten Songs ja ein irgendwie entrückt-weltfremdes Wesen sein muss – das Gegenteil ist der Fall. Von Christina Mohr
Julia Shammas Holter ist fokussiert, agiert auf angenehme Weise professionell, beantwortet Fragen, die man noch gar nicht gestellt hat und erweckt überhaupt einen sehr geerdeten Eindruck. Um es mit ihren eigenen Worten zu sagen: „I´m very serious about my work but I´m willing to let the magic in.“
Derzeit „magic“ zu erleben, ist nicht ganz einfach: das Interview findet an einem der heißesten Tage dieses Sommers statt, alle stöhnen, und auch Holter gibt zu, kein „Draußi“ zu sein, schon gar nicht bei diesen Temperaturen. „Am liebsten wäre ich jetzt in einem abgedunkelten Raum mit Klimaanlage (Anm. MO: das deutsche Büro von Domino Records hat offenbar keine). Aber andererseits habe ich mich inzwischen an die Hitze gewöhnt: ich bin seit Wochen mit einem Haufen verschwitzter Leute (Anm. MO: ihrer Band) in unserem Tour-Van unterwegs, abends treten wir auf und schwitzen noch mehr. Ein echtes Rockstar-Leben!“
Die Reaktionen des Publikums in Spanien, Portugal und beim Pitchfork-Festival auf ihr drittes Album waren durchweg positiv, was Julia vor allem deswegen sehr freut, weil es gänzlich unbekannte Stücke sind. Auf meine Frage, warum die Platte denn jetzt „Loud City Song“ heiße und nicht „Gigi“, wie ich irgendwo gelesen habe, kann ich ihr Augenrollen förmlich vor mir sehen: „Ich weiß, dass das überall steht und ich mache dir keinen Vorwurf, dass du das auch gelesen hast. Dass ich mal ein Album namens ‚Gigi‘ machen will, habe ich in meinem allerersten Interview gesagt, ohne dass damals schon irgendetwas festgestanden hätte – ich hatte ja keine Ahnung, wie hartnäckig sich Sachen im Internet halten, selbst wenn sie längst nicht mehr stimmen. Aber ich habe meine Lehre daraus gezogen und würde nie wieder etwas über meine Zukunftspläne verraten.“ Okay, also keine Fragen zu künftigen Projekten – aber das steht auch gar nicht zur Debatte, denn „Loud City Song“ ist zum Zeitpunkt des Gesprächs noch gar nicht erschienen.
Noch eine weitere Falschinformation beseitigt Julia: alle Stücke der Platte sind neu und nicht etwa schon vor „Tragedy“ und „Ekstasis“ entstanden, wie man es an verschiedenen Stellen im Netz lesen kann. „Ich habe während der „Ekstasis“-Tour an den neuen Stücken geschrieben.“ „Loud City Song“ basiert lose auf Sidonie-Gabrielle Claudine Colettes* Roman „Gigi“, deren Protagonistin Holter aus dem Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts ins heutige Los Angeles zeitreisen lässt. Wie auch schon bei ihren früheren Stücken bildet Literatur die Basis für ihre Kompositionen – die einzige Gemeinsamkeit, die Holter zwischen sich und Nick Cave sieht, der sie im vergangenen Jahr als Support-Act eingeladen hatte. „Musikalisch verbindet uns nicht viel, aber Cave ist ein echter Poet, das schätze ich sehr.“ Tatsächlich braucht Holter die Unterstützung berühmter älterer Herren nicht, sie weiß genau, wie außergewöhnlich ihre Musik ist.
Dass so manche/r verzückter/ Journalist/in sie als hochbegabtes Wunderkind (ok, sie ist 28) bezeichnet, geht für sie in Ordnung: „Ich habe nichts dagegen, wenn meine Musik oder ich selbst als etwas Spezielles, Besonderes bezeichnet werden – das ist doch toll!“ Direkte Vorbilder hat sie nicht, in ihrem Elternhaus wurde allerdings viel Joni Mitchell gehört, die als dezenter Einfluss bei einigen Songs von „Loud City Song“ spürbar ist. Dass ich auch Spurenelemente von Burt Bacharachs Kompositionen herausgehört haben will, weist sie als direkte Referenz zwar von sich, „aber ich verstehe was du meinst. Einige Stücke haben einen sehr poppigen Akzent.“ Holter selbst zieht keine Grenze zwischen klassischer und Popmusik: „Ich sitze nicht am Piano oder im Studio und überlege mir, ob ich jetzt mal ein klassisches Stück aufnehme oder doch lieber einen Popsong. Es ist einfach Musik.“
„Loud City Song“ ist wie die beiden Vorgängeralben so diffizil wie zugänglich: die kräftigen Bläsersätze in „Horns Surrounding Me“ bilden erstaunliche Kontraste zu ätherisch-schwebenden Stücken wie „City Appearing“. Auch wenn sie, siehe oben, ihre Musik sehr ernst nimmt, ist Julia Holter keine perfektionistische Autistin: „Wenn du Musik machen willst, musst du lernen, anderen zu vertrauen – den Leuten im Studio, deiner Band und auch deinen Songs. Es kann gut sein, dass sie sich ganz anders entwickeln, als ich mir das anfangs gedacht habe. Aber das ist okay. That´s magic!“
Christina Mohr
* Vielen Dank an Julia Holter, dass sie an diese formidable Schriftstellerin erinnert, die im Übrigen ein höchst aufregendes Leben führte. Bitte recherchieren Sie jetzt!
Julia Holter: Loud City Song. Domino (Goodtogo). Zur Homepage.