Geschrieben am 16. März 2011 von für Musikmag

Interview mit Ulrike Haage

Die Pianistin Ulrike Haage arbeitet an der unbeschreibbaren Schnittstelle von Jazz, Avantgarde, klassischer Musik und Literatur. Für CULTurMAG hat sie Christina Mohr ein paar Fragen beantwortet.

Ulrike Haage„Es geht mir um die Sinnlichkeit des Hörens“

Für die Pianistin Ulrike Haage existieren keine (musikalischen) Grenzen: einem großen Publikum wurde sie ab 1989 bekannt, als sie als Keyboarderin zu den Rainbirds stieß. Doch die Rainbirds waren für Haage nur eine Etappe in ihrer künstlerischen Laufbahn. Theatermusik, Hörspiele, Kooperationen mit Musikern wie FM Einheit und der Schauspielerin Meret Becker und die Gründung des Verlages Sans Soleil gehören zu Haages Werk ebenso wie ihre Arbeit als Produzentin, Skriptautorin und Solokünstlerin. 2003 bekam sie als erste Frau den Deutschen Jazzpreis verliehen, zwei Jahre später schickte das Goethe Institut sie nach dem Erscheinen ihres Albums „Sélavy“ auf eine ausgedehnte Russland-Tournee, in deren Rahmen sie Workshops für Musikstudenten gab. Mit Haages vielen Projekten könnte man viele Seiten füllen – sie selbst macht einfach weiter, an der unbeschreibbaren Schnittstelle von Jazz, Avantgarde, klassischer Musik und Literatur. Unlängst erschien ihr neues Album „in:finitum“ (Rezension siehe hier).

Wir freuen uns sehr darüber, dass Ulrike Haage Christina Mohr für CULTurMAG folgendes ausführliches Interview gab…

CM: Auf deinem neuen Album „in:finitum“ arbeitest du mit verschiedenen Musikern und einer Sängerin zusammen, am 2.2.11 in Frankfurt bist du allein aufgetreten – was liegt dir mehr, die Arbeit/Musik allein oder mit mehreren?

UH: Meine Kompositionen und meine Musik sind meistens so angelegt, dass sie in verschiedenen Formationen gespielt werden können. Jedes Stück sollte nach Möglichkeit auf dem Flügel, also solistisch, klingen können. Dann gibt es das Duo mit dem Schlagzeuger Eric Schaefer, mit dem mich seit mehreren Jahren eine enge und regelmäßig sich erneuernde, forschende Zusammenarbeit verbindet. Und es gibt die „großen Besetzungen“ – meine eigenen ‚Kammerorchester‘ (lacht) – bei denen abwechselnd oder zusammen das Streichtrio, Mezzo-Sopran und Saxophon dabei sind. Alle drei Konzepte machen mir riesigen Spaß. Am aufregendsten sind die großen Besetzungen, weil da natürlich ungeheure Energien zwischen allen Musikern frei werden.

Wie schwer ist es (wenn es denn schwer ist), sich allein am Klavier mit neuem Material einem Publikum auszusetzen?

Das ist nicht schwerer als gemeinsam mit mehreren Musikern. Neues Material, neue Kompositionen machen eine erste Präsentation immer aufregend. Innerlich ist man gespannt, ob das Publikum die Ideen annimmt, ich sie so spielen kann, dass begreiflich wird, was ich meine oder einfach der Funke überspringt. Mit der neuen CD „in:finitum“ habe ich bisher Konzerte in allen drei Formationen gegeben, und die komplexeste Präsentation fand im März 2011 im Radialsystem in Berlin statt. Drei Streicherinnen des Deutschen Symphonie Orchesters, Eve Wickert, Olga Polonsky und Adele Schneider-Bitter, trafen auf die Jazzmusikerin Angelika Niescier am Saxophon. Im Trio mit Schlagzeug, Flügel und Viola haben wir „Magic Waters“ vom Weißen Land gespielt. Da kreuzten sich also permanent klassische Farben und rhythmische Welten. Ein sehr intensives Konzert, das das Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen hat. So etwas macht uns dann glücklich und wir sind froh, dass die Premiere gelungen ist.

Brauchst du die Resonanz des Publikums oder könntest du auch alleine für dich Musik machen?

Ich komponiere die Musik für ein Publikum. Sie ist in mir und muss heraus. Das Publikum macht die Musik dann zu einem Ereignis. Ohne Publikum und das Urteil des Publikums geht das nicht. Ich möchte Dir erzählen, dass mich dieser Gedanke schon lange beschäftigt. Meine erste Solo-CD heißt „Sélavy“, ein Wortspiel, ausgeliehen von Marcel Duchamp. Der sagte in seiner Vorlesung „the creative act“, dass eben dieser kreative Akt des Erschaffens von etwas (egal was, ein Haus, ein Kunstwerk, eine Keramik, ein Buch) erst mit dem Publikum oder dem ‚Anderen‘ zu einem Ganzen wird.

Du hast gesagt, dass du dem Publikum auch die Stille ‚zumuten‘ willst – hast du schon Konzerte erlebt, bei denen das Publikum die Stille nicht ausgehalten hat? Also unruhig wurde oder ähnliches?

Das ist eine Frage der Dramaturgie und der eigenen Kraft. Es ist sehr wichtig, womit man ein Konzert eröffnet, wie man das Programm zu einem Höhepunkt führt und wann es durchaus möglich ist, mit Momenten der Stille und fast rituellen Klängen zu spielen. Für die Dramaturgie eines Konzertprogramms habe ich viel von der klassischen Musik gelernt und natürlich auch durch meine Arbeiten am Theater.

Auf „in:finitum“ wird besonders deutlich, auf deinen früheren Veröffentlichungen aber auch: in deiner Musik verschwimmen Genregrenzen (zwischen Jazz, Klassik, Pop…). Wie sinnvoll sind Klassifizierungen in der Musik überhaupt?

Mich persönlich interessieren Genregrenzen nicht. Natürlich gibt es Genres, aber die Grenzen spielen keine Rolle. Wo hat denn ein Genre überhaupt eine Grenze? Mir gefällt gut gemachte Musik und es gibt in allen von Dir genannten Musikrichtungen wunderbare Musik. Die Beatles haben, während sie ihre eigene Musik auf einem Pop und Rock Instrumentarium erfanden, das klassische Streichquartett hinzu genommen („Eleanor Rigby“). Ich glaube nicht, dass das lange Überlegungen sind, die zu so etwas führen. Man schreibt und hat Ideen für Instrumente, Klänge oder bestimmte Musiker. Den eigenen Horizont für die Verbindung verschiedener musikalischer Welten legt man selber durch seine Interessen und Kenntnisse fest. Ich bin zufällig mit Jazz und einigen ausgewählten klassischen Musiken groß geworden, habe als Kind Schumann, Grieg und Bartok gespielt und zuhause doch überwiegend Bill Evans oder Miles Davis gehört. Und da, wo es beim Hören innerlich vor Freude schmerzt, ist doch alles gut.

Der Musiker Hauschka spielt wie du auf einem präparierten Klavier, Dorit Chrysler arbeitet mit dem Theremin – beide werden in Pop-Medien besprochen. Ist Pop (und auch die entsprechenden Medien) durchlässiger geworden, bzw. gilt nicht mehr nur Gitarre/Bass/Schlagzeug (evtl. Synthesizer) als Popmusik?

Ob die Medien durchlässiger geworden sind, weiß ich nicht. Ich glaube, es gibt nach wie vor den vermutlich sehr menschlichen Wunsch nach Szenen und Abgrenzung = Zugehörigkeit zu einer Kultur: Pop, Klassik, Jazz. Damit ist ja auch ein Lebensgefühl oder eine Identifikation mit Idolen verbunden. Zum Umgang mit Präparationen oder überhaupt neuen Spielweisen würde ich gerne genereller antworten. In der Geschichte der Menschheit muss immer etwas Zeit vergehen, bevor eine Bewegung, die als avantgardistisch, neu oder experimentell galt, in der Gegenwart als normal empfunden wird. Eric Satie hatte schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in seinem Stück „Piège de Méduse“ (1913) Klaviersaiten mit Papierschnipseln präpariert. Er schrieb seine Stücke mit sehr viel Humor, und darum zählen viele seiner Kompositionen heute fast zur Popkultur. Henry Cowell arbeitete in den 20er-Jahren konsequent an Kompositionen für präpariertes Klavier, und sein Schüler John Cage machte diese Klänge dann in den 40er- und 50er-Jahren endgültig bekannt. Es war eigentlich immer so und hält bis heute an, dass man neue Spielweisen und neue Instrumente immer weiter in populäre Musik integriert.

Welches Stück auf „in:finitum“ liegt dir besonders am Herzen und warum?

Mir gefallen alle Stücke, weil sie Teil eines großen Konzeptes sind. Alle Kompositionen sind miteinander verbunden. Die „Momen“ bilden kleine Inseln und manchmal sind sie auch Themenauszüge in anderer Rhythmik oder anderen Tempi von später wieder auftauchenden Kompositionen. Die großen rhythmischen Themen wie „Fingerprints“, „Lament“ und „Evocations“ sind zentrale Momente. Es ging mir um eine sparsame Instrumentierung und eine Balance zwischen Komposition und Improvisation, die sich der Absicht des Stückes verschreibt. Und alle Musiker, die auf dieser CD mitgewirkt haben (Eric Schaefer, Uwe Steinmetz, Franziska Markowitsch, das Ensemble Laurier) spielen mit der ihnen eigenen Hingabe, sodass bei aller Form auch die Emotionalität bewahrt bleibt.

Wie komponierst du? Improvisierend im Studio oder zuerst auf Papier?

Ich improvisiere viel und schreibe parallel Fragmente davon auf oder notiere mir kryptische Linien und Punkte und halte Gedanken fest. Dann wiederhole ich die Essenzen, die mir gefallen, manchmal stundenlang, bis sie rund klingen und ich weiß, ja das ist die richtige Phrase oder der richtige Akkord, die richtige Folge von Tönen, und nach und nach entsteht das gesamte Stück mit den Ideen für alle Musiker. Manchmal geht das sehr schnell wie bei der „Lesbarkeit der Welt“ – ein Walzer. Manchmal braucht es lange, bis das ganze Stück aus dem Kopf heraus auf dem Papier gelandet ist, vor allem wenn es sich auch um ein langes komplexeres Stück handelt.

Wie oder wo findest du deine MitmusikerInnen?

Das ist unterschiedlich. Manchmal wird man angesprochen nach einem Auftritt, so kam es zu der Zusammenarbeit mit den Rainbirds. Oder man wird mit jemandem verkuppelt, so kam es zu der Begegnung zwischen Eric und mir. Oder man denkt sich aus, mit wem man gerne eine bestimmte Musik umsetzen würde, und daraus wird dann ein gemeinsames Projekt.

Gibt es eine Platte, eine/n Künstler/in, der/die dich besonders beeinflusst hat?

Es gibt keine speziellen einzelnen Künstler sondern insgesamt Musik, mit der ich aufgewachsen bin und die mich sehr beeinflusst hat. Es gab eine Zeit, da war Keith Jarrett der prägende Pianist. Auch meine Eltern haben ihn sehr verehrt. Also habe ich zum Beispiel schon sehr früh die Platten „Belonging“ und „Mourning Of A Star“ gehört, die mir damals sehr gefielen. Für mich waren es aber vor allem die Komponisten der neuen Musik wie Stockhausen, Xenakis, Morton Feldman oder John Cage, die meine musikalische Phantasie über alles angeregt haben. Und dann gab es da noch einen Künstler und Filmemacher, der meine Kompositionsweise eines Tages wirklich verändert hat: Chris Marker. Nachdem ich seinen Film „Sans Soleil“ gesehen habe, habe ich völlig anders über Musik nachgedacht.

„Der ewige Geheimtipp“ – du bist kein ‚Popstar‘ in dem Sinne, dass man überall ständig über dich lesen kann oder deine Musik in den Charts auftaucht. Aber wer deine Arbeit kennt, hat nicht den Eindruck, dass du unterbeschäftigt wärst, im Gegenteil wird man kaum KünstlerInnen finden, die auf so vielfältige Weise aktiv sind wie du. Ist es vielleicht sogar befreiend, nicht zu populär zu sein? Eröffnet eine gewisse ‚Verstecktheit‘ kreative Möglichkeiten, die man als ‚Star‘ nicht mehr hätte?

Mir geht es um die Musik, um diesen Raum, in dem man kreiert und in dem sich Traum und Realität ständig durchdringen. Ich will mit der Musik zeigen, dass der Horizont weit ist, dass es eigene Innenräume gibt und man nicht alles von den Urteilen der anderen oder den Medien abhängig machen soll. Kommunikation, Wahrnehmung, bewusstes Leben. Das ist mir wichtiger, als in einem zu stark strukturierten System eingezwängt zu sein. Eines der wenigen heutigen Medien, in denen dieser Freiraum zu kreieren möglich ist, ist der Rundfunk. Dort urteilt nicht das Auge, sondern das Ohr. Das gefällt mir an der Hörspielarbeit so sehr. Hier ist die große Herausforderung, akustisch hörbar zu machen, was man dem Geschriebenen nicht sofort ansieht. Es geht mir um die Sinnlichkeit des Hörens.

Du machst Hörspiele, Theatermusik, nimmst Platten auf, gibst Konzerte, hast einen Verlag (Sans Soleil), etc.pp. – bekommst du alles, was du machen willst, unter einen Hut? Was hast du noch vor?

Ich mache ja nicht alles alleine, das müsste ein großer Panamahut sein! Den Verlag Sans Soleil leitet zum Beispiel die Übersetzerin Pociao. Sie gibt unsere Bücher und CDs heraus.

Die Frage wurde dir sicherlich bereits gestellt, mich interessiert es aber auch: in deinen Hörspielarbeiten, Albumveröffentlichungen und in deinem Verlag befasst du dich häufig mit Künstlerinnen wie Eva Hesse – verfolgst du einen dezidiert feministischen Ansatz oder ist das nicht die Hauptsache?

Ich möchte zu Gehör bringen, was ich spannend finde. Und wenn es tolle Texte von großen, aber nicht so oft gehörten oder nicht so bekannten Künstlern und Künstlerinnen gibt, dann montiere ich daraus gerne Librettos für eine musikalische Hörspielproduktion. Das Entscheidende daran ist aber die Sprachqualität und die Aussage der Texte. So habe ich wunderbare Tagebücher von der Künstlerin Eva Hesse oder Briefe und Tagebücher des wortgewaltigen Oskar Schlemmer entdeckt, die fast wie Zeitchroniken anzuhören sind. Die „Insomnia Drawings“ von Louise Bourgeois lesen sich wie Haikus. Und die Anagramme von Stephan Krass haben mich zu eher klassischen Kompositionen für Mezzo-Sopran angeregt.

Nochmal Feminismus: erlebst du in der Musikbranche einen unterschiedlichen Umgang mit weiblichen und männlichen Künstlern?

Ich habe beschlossen, mich mit der Frage nicht mehr zu beschäftigen, sondern mich auf meinen Weg zu konzentrieren. Es ist in der Musikbranche wie in jeder anderen Branche. Darüber werden vermutlich auch ganze Examensarbeiten geschrieben, so komplex ist das Thema.

Du hast von deiner Goethe-Institut-Reise durch Russland/die Wolga-Städte/ Sibirien und deiner Arbeit dort erzählt: wie sehr beeinflussen Reisen wie diese deine Arbeit?

Reisen beeinflusst meine Arbeit generell sehr. Ich bin als grundsätzlich neugieriger Mensch gerne in fremden Ländern, vorwiegend Nordafrika oder asiatischen Ländern, östlich des Urals. Dort wo ich mich fremd fühle, fühle ich mich in mir zuhause. Ich mag Unterschiede und finde die Begegnung unterschiedlicher Kulturen und Mentalitäten spannender als die Globalisierung, die ja sowieso überwiegend Geschäftemacherei ist. Mich nervt es, wenn der Flughafen in Irkutsk eines Tages genauso aussehen wird wie der von Paris. Ich weiß nicht genau, warum ich, wenn ich nach Osten fliege, keine Ängste mehr habe, während ich – wenn ich nach Westen fliege, mehr unsere von Angst geprägte Sozialisation spüre. Ich bin mit einem fast verloren geglaubten Urvertrauen in sämtliche unterschiedlichen russischen Flugzeuge gestiegen, worüber hier jeder lacht, weil man immer die Vorstellung hat, dass die Flugzeuge dort alt und unzuverlässig wären. Sibirien war eines der spannendsten Länder, die ich – neben Afghanistan – je bereist habe. Ich habe dort auch Workshops gegeben und hatte Kameraleute, mit denen ich Portraits der jungen Musiker und ihrer Kompositionen sowie ihren Lieblings – oder verstörenden Orten in den jeweiligen Städten gemacht habe. Die Montage dieser Aufnahmen zeigte mir ein eigenwilliges tolles Portrait der Städte Perm, Nowosibirsk und Krasnojarsk.

Wenn du aus irgendeinem Grund keine Musik mehr machen könntest, was würdest du tun?

Ich würde reisen, filmen und dann Geschichten dazu sammeln.

www.sanssoleil.de

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