Blick in die Abgründe
Zeiten wie diese, in denen die schlechten Nachrichten nicht abreißen und die Welt zur Hölle zu fahren scheint, sind auch Zeiten für Misanthropen. Es sind daher genau die richtige Zeiten für ein Projekt wie das von Hans Joachim Irmler und Carl Friedrich Oesterhelt. Sie haben sich von den „Gesängen des Maldoror“ des französischen Schriftstellers Lautréamont inspirieren lassen, einem extrem gewaltrünstigen Text, der 1868 zum ersten mal erschien und damals fast unbeachtet blieb. Erst nachdem die Surrealisten um André Breton ihn in den 1920er-Jahren wiederentdeckten, nahm das Buch Fahrt auf und wurde zu einem wegweisenden Werk des 20. Jahrhunderts. Revolte gegen den Schöpfer, wie sie auch später Camus in seinem existentialistischem Werk thematisierte, führt hier zu einem Furor der Grausamkeit. Maldoror ist der Rächer par excellence, der Gott für die Erschaffung des kranken Menschengeschlechts zur Verantwortung zieht.
Irmler und Oesterhelt vertonen nun diesen Blick in die Abgründe des absolut Bösen zusammen mit Amateurmusikern des Blasorchesters der Stadtkapelle Scheer und dem „Modern String Quartett“ aus München. Collagiert werden in den sechs Gesängen komponierte sogenannte Neue Musik, osteuropäisch inspirierte Volksmusik, ergänzt durch teilweise überraschende Improvisationen. Das ist manchmal brachial, manchmal von verzaubernder Schönheit (s. Fünfter Gesang), aber immer verstörend.
Daher: Nicht hören, wenn man weitab der Zivilsation ganz allein im Haus ist. Da liest man ja besser auch nicht das Buch.
Tina Manske