Vor dem Austritt ist vor dem Austritt

Erschienen ist dieses Album am 29. März, dem geplanten Tag des Ausscheidens Großbritanniens aus der Europäischen Union. Jetzt, wo wir wissen, dass es erst spätestens am 31. Oktober soweit sein wird, haben wir also noch genügend Zeit, über diesen Liedern zu schwelgen. Wobei, schwelgen ist das falsche Wort. Gleich zu Beginn setzt Matthew Herbert dräuende Klänge, es ist eher eine Weltuntergangsmusik, die wir da hören. Und bei „The Tower“ dann auch ein drängendes Martinshorn.
„The State Between Us“ ist getragen von Field Recordings aus ganz UK – ein demontierter Ford Fiesta, ein gefällter Baum, eine Schwimmerin auf dem Ärmelkanal, Schafe in Wales, Laute von vom Aussterben bedrohter Tierarten. Alles wird eingebettet in harmonisch-schöne Kompositionen, teils unterlegt mit leisen bis donnernden Chören. Herberts Version von „Moonlight Serenade“ zum Beispiel ist eine schaurig-melancholische Gruselvariante von betörender Schönheit.
Der Begriff Big Band führt hier erst mal in die Irre. Die meiste Zeit in ruhigen Tönen, zwar mit Bläserseligkeit, aber doch auch mit typisch englischem Understatement, schlängelt sich Matthew Herbert an den Grenzen seines Heimatlandes entlang. In der Vorstellung des Albums wandert hier einer durch verschiedene Landschaften, und das kann man sehr gut nachvollziehen. Alles läuft hinaus auf die Hauptaussage bzw. -frage: „Where’s Home?“ – und das ist dann tatsächlich eine Frage, die man tanzen kann, mit voller Big-Band-Untermalung.
Klar, dass einer wie Herbert, der als Produzent u. a. Roisin Murphy zu einem ihrer besten Alben verhalf („Ruby Blue“ wo eer schon seine musique-concrète-Ansätze durchscheinen ließ) auch hier auf Kollaborationen setzt; mit dabei auf dem neuen Album sind zum Beispiel Arto Lindsay und Merz.
„The State Between Us“ gibt ein schönes abstraktes Bild dessen, was wir vermissen werden, sollte Großbritannien irgendwann tatsächlich die EU verlassen.
Tina Manske