Christina Mohr über zwei hörenswerte Pre- und Post-Punk-Sampler.
Die meistverkaufte Compilation des NME
– Anno 1986 beinhaltete die Mai/Juni-Ausgabe der britischen Musikzeitschrift NME ein geschichtsträchtiges Gimmick: Fünf Jahre zuvor war die stilprägende Cassettencompilation „C81“ dem Heft beigelegt worden, auf der 25 Postpunk-Tracks vom Rough Trade-Label versammelt waren, das 1981 sein fünfjähriges Bestehen feierte. Aufgrund des großen Erfolges und der enormen Breitenwirkung des 81’er-Tapes wiederholte der NME die Cassettenbeigabe: 22 Songs gab es auf „C86“ zu hören, allesamt von Bands, die auf Independent-Labels (den Begriff „Indie“ gab es damals noch nicht) veröffentlichten.
Der „C81“-Sampler war von Elektronik bis Punkrock stilistisch sehr breit angelegt, „C86“ konzentrierte sich auf Gitarrenmusik: punkinspiriert, aber deutlich Pop-affin – wenig später sollte sich daraus Shoegaze und Twee-Pop entwickeln, aber 1986 war es noch nicht soweit. Bands wie Primal Scream mit dem gerade bei Jesus and Mary Chain ausgestiegenen Bobby Gillespie, The Pastels, Shop Assistants, The Soup Dragons, The Mighty Lemon Drops, The Bodines, Stump und last but not least The Wedding Present präsentierten wahres Highspeed-Gitarrengeschrammel, fernab von Rockklischees. New Pop hieß das Zauberwort in Great Britain und verwies auf Acts wie ABC, Scritti Politti und besonders Culture Club: In den früheren bis mittleren Achtzigern wurden KünstlerInnen erfolgreich, deren Wurzeln eindeutig im Punk und New Wave lagen, die sich aber vor Glamour, Dancefloor und vor allem Charterfolgen nicht scheuten. Ganz im Gegenteil: Underground was for Losers!
Aus dieser Haltung heraus agierten Close Lobsters, Miaow, Half Man Half Biscuit und die anderen C86-Bands und nahmen Songs auf, die vor positiver Energie nur so strotzten (meistens: das echt angepisste „Bullfighter´s Blues“ von The Shrubs ist eine der wenigen Ausnahmen), schnell und supermelodiös waren und unmittelbar in Ohren und Beine gingen. Und wie bereits erwähnt: ohne Rock-Mackertum. 1986 war die Zeit der blassen Jungs mit dünnen Ärmchen und Topffrisuren, zu großen Shirts und Hosen – und von wildfrisierten Frauen wie der Girlband We´ve Got A Fuzzbox And We´re Gonna Use It, die sich später aus naheliegenden Gründen in Fuzzbox umbenannten und auf der NME-Cassette mit dem ebenso wilden „Console Me“ vertreten sind.
„C86“ ging insgesamt 40.000mal über die Ladentische und wurde damit die meistverkaufte Compilation des NME – wenn sich auch nicht alle Erfolgsträume der vertretenen Bands erfüllten, wurden sie dank der Compilation zumindest unsterblich.
28 Jahre später gibt es nun die luxuriöse Neuauflage von „C86“: natürlich nicht auf Cassette, sondern im luxuriösen 3-CD-Boxset im Papp-Klapp-Cover und mit ausführlichem Booklet mit Bandinfos, Konzertplakaten, Flyern und Fotos. Drei CDs für 22 Songs?, mag sich jetzt so manche/r fragen – für das BoxSet gruben Original-Compiler Neil Taylor und das Kuratorenteam des letztjährigen Cherry-Red-Packages „Scared To Get Happy“ viele weitere Bands/Songs aus, die 1986 auch auf der Cassette hätten landen können: The Membranes, B.M.X. Bandits, The Jesus And Mary Chain, That Petrol Emotion, Pop Will Eat Itself, Treebound Story (mit Richard Hawley!), Biff Bang Pow!, The June Brides und viele mehr – einige Songs sind hier zum ersten Mal veröffentlicht bzw. zum ersten Mal auf CD erschienen.
Ich schreibe sowas ja ungern: Aber dieses Set ist ein echtes Must-Have!
Various Artists: C86 (Deluxe-3CD-Boxset, Cherry Red Records)
Before Punk was Punk
Die Soul-Jazz-Reihe „PUNK 45“ geht in die dritte Runde: erneut zusammengestellt und in unvergleichlicher Weise kommentiert von Jon Savage, dreht sich Volume III um Punk before Punk was Punk – beginnend in den späten 1960er- bis in die mittleren 70er-Jahre. Einige der Bands sind „bekannt“, also in Insiderkreisen quasi heilige Namen wie electric eels, Hollywood Brats, Cabaret Voltaire, Count Bishops oder Joe Strummers Pre-Clash-Band The 101ers, als Strummer noch John „Woody“ Mellor hieß. Andere wie z.B. Death bekommen nun die längst verdiente Chance zur Wiederentdeckung. Besonders Death sind interessant: Auf „PUNK 45“ wird nämlich mitnichten die Death-Metal-Band gleichen Namens vorgestellt, sondern das schwarze Brüdertrio aus Detroit, die zunächst als RockFire Funk Express starteten (und damit eine sehr genaue Beschreibung ihrer Musik lieferten) und später als Death (from Detroit) zwar sehr erfolglos, aber enorm einflussreich wurden. Ihr Song „Politicians in my Eyes“ hat alles, was ein guter Crossover-Polit-Track haben muss und stammt von 1976.
Vielen Stücken hört man ihre Entstehungszeit deutlich an: Ähnlich wie die New York Dolls kombinierten Hollywood Brats, Killer Kane Band (mit Arthur „Killer“ Kane) und die von Savage sehr verehrten Victoria Vein and the Thunderpunks 70er-Jahre-Rock’n’Roll mit extravaganten, flamboyanten Outfits, die Mick Jagger ziemlich bieder aussehen ließen; Zolar X waren mit ihrem „Sci-fi rock“ L.A.´s erste Glamrock- und Jello Biafras Lieblingsband; The Hammersmith Gorillas aus – richtig: London, Hammersmith! – coverten 1974 „You Really Got Me“ von den Kinks und klangen so zerstört und derangiert, wie es die Kinks nie sein konnten.
Jon Savage rückt die Song- und Bandauswahl in einen klaren Kontext: Alle vorgestellten Bands trugen die Sixties endgültig zu Grabe – musikalisch, inhaltlich, optisch, wie auch immer. Die Zeit der Hippies war vorüber, die der Punks noch nicht da. Die Proto-Punks waren In-Betweener, Visionäre, Suchende, Verzweifelte, Wütende. Die Musik ist teils extrem radikal/avantgardistisch/destruktiv (Cabaret Voltaire, electric eels), experimentell (Death), umgeschliffen und rauh, noch gängigen Rockmustern verhaftet, aber auf der Suche nach neuen Formen (101ers, Pastiche, Jack Ruby), andere Bands wiederum wollen wenigstens so viel Spaß wie möglich (Victoria Vein). Der Sampler bringt diese verschiedenen Fäden zusammen – und zeigt die Anfänge des Punk, als Punk noch nicht Punk war, aber bald wurde.
PUNK 45 Vol. 3: Proto-Punk 1969 – 76. Sick On You! One Way Spit! After The Love & Before the Revolution (Soul Jazz).
Christina Mohr