Punk und Postpunk
– 1971 als Konzertagentur gegründet, veröffentlichte Cherry Red in den späten 1970er- bis mittleren 80er-Jahren Platten von Punk- und Postpunkbands aus UK, aber auch lizenziertes Material aus den USA. Die Cherry Red-Verantwortlichen hegen bis heute eine große Liebe für „peinliche Lieblingsplatten“… Von Christina Mohr
Manchmal liegen die Themen einfach in der Luft: In den aktuellen Blitzbeats stellen wir die EMI-Reihe „London Rocks!“ vor, in der Pop-Klassikeralben aus Great Britain wiederveröffentlicht werden. Was für EMI nur eine Nebenaktivität ist, ist für das Londoner Label Cherry Red Records aus London Haupteinnahmequelle und Herzensangelegenheit zugleich: 1971 als Konzertagentur gegründet, veröffentlichte Cherry Red (benannt nach dem gleichnamigen Song von The Groundhogs) in den späten 1970er- bis mittleren 80er-Jahren Platten von Punk- und Postpunkbands aus UK wie The Tights, aber auch lizenziertes Material aus den USA von den Runaways oder The Hollywood Brats.
Cherry Red war von Beginn an sehr gut darin, Geschichte zu schreiben: 1979 erschien das Debütalbum der Dead Kennedys, „Fresh Fruit for Rotting Vegetables“ bei Cherry Red. Das Geld für die Studioaufnahmen (10.000 US-Dollar) streckte Gründer Iain McNay höchstselbst vor, und er scheint bis heute hinter dieser Entscheidung zu stehen, denn McNay ist noch immer Firmenvorstand.
Der Erfolg mit den Dead Kennedys ermöglichte Cherry Red, wichtige Postpunkbands wie The Monochrome Set, Everything But The Girl, Felt oder Eyeless in Gaza zu signen und sich als maßgebliches Independent-Label zu profilieren. Als A&R-Chef Mike Alway zu Blanco Y Negro wechselte, verlor Cherry Red an Renommée – und andere Indie-Labels wie Factory Records, Mute und Rough Trade hatten schlussendlich die interessanteren Bands und bessere Images.
Alway kehrte 1986 zu Cherry Red zurück, um das Sub-Label él zu etablieren, das sich auf High brow-independent-Bands konzentrierte. Damit war der Grundstein für Cherry Reds künftige Ausrichtung gelegt: Cherry Red wurde zum Sammelbecken für viele kleine Labels, gleichzeitig begann man mit der Wiederveröffentlichung verschollener, für wichtig erachteter Alben. Die Cherry Red-Verantwortlichen hegen bis heute eine große Liebe für „peinliche Lieblingsplatten“ (die Cherry Red-Verantwortlichen sprechen von „light music“, die oft „critically unloved“ ist), sodass man sich nicht wundern sollte, wenn im aktuellen Cherry Red-Magazin das remasterte und neu veröffentlichte Gesamtwerk (!) von Samantha Fox (!!) gefeiert und angepriesen wird wie andernorts verschollene Tapes von Bob Dylan oder Bruce Springsteen.
Cherry Reds Gesamtkatalog ist so unübersichtlich wie sympathisch: alle im Roster enthaltenen Labels an dieser Stelle aufzuführen, würde den Rahmen deutlich sprengen, deshalb nur der dringliche Hinweis, auf die Label-Website zu gehen, ein wenig Zeit mitzubringen und sich durchzuklicken. Cherry Red gräbt Soul-, Folk-, Teenbeat-, Rocka- oder Psychobilly-, Progrock-, Esoterik-, Softrock-, New Wave-, Disco- oder Kraut-Obskuritäten aus, und nicht wenige werden sich darüber freuen, dass Cherry Red Alben neu herausbringt, die man sich zur damals aktuellen Zeit nicht leisten konnte oder wollte, seien es Alben von The Christians oder Barclay James Harvest, Dionne Warwick oder France Gall, Tony Black, Van Der Graaf Generator, Demented Are Go! oder Eater.
Ach ja: Cherry Red veröffentlicht auch Bücher (nicht zu knapp übrigens und enorm interessante Titel über Joe Meek, Goth-Culture, Mott The Hoople, Embryo,…), DVDs, und es erscheinen immer wieder wichtige Novitäten wie z. B. das letzte Album von The Fall, „Ersatz GB“ (2011).
Hier eine winzige, winzige, höchst subjektive Auswahl aktueller Re-Releases (natürlich wurde Frau Mohr bei Cherry Red fündig, und nein, Sam Fox hat sie nicht ausgesucht):
Teena Marie: Starchild
Wiederveröffentlichung des Originalalbums von 1984 inkl. fünf Bonustracks
Teena Marie: Robbery
Wiederveröffentlichung des Originalalbums von 1983, vier Bonustracks
Demented Are Go!: The Day The Earth Spat Blood/Go Go Demented
Wiederveröffentlichungen von 1989 und 1990, keine Bonustracks
The Ballad of Jacques Brel (él, 2012)
Eater: The Album
Wiederveröffentlichung von 1977 + sechzehn Single-Tracks, teils Live-Aufnahmen
Lisa Lisa & Cult Jam With Full Force
Wiederveröffentlichung des Albums von 1985 + fünf Bonustracks
Mick Mercer: Music to Die For (Cherry Red Books, Broschur)
600-Seiten starkes Kompendium aller nur möglichen Gothic-, Ambient-, Deathrock-, Death Metal-, Horror Punk- und whatsoever-darken Bands mit hunderten von Fotos, natürlich in schwarz-weiß. Mick Mercer geht in diesem Buch entgegen seiner ansonsten üblichen Ausführlichkeit nicht sehr ins Detail, sondern begnügt sich mit der Aufzählung der wichtigsten Facts. Wer über Bands wie Burning Rome, Paralisis Permanente, Seelenkrank oder The Lobster Quadrille mehr erfahren will als die Namen ihrer Mitglieder und ihrer Website muss selber weiterforschen. Als beeindruckendes Sammelwerk für Interessierte dennoch unverzichtbar.
Christina Mohr