Geschrieben am 2. März 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Damenwahl (I)

Jede Menge neuer Platten junger und nicht mehr ganz so junger Frauen hat Christina Mohr in den letzten Wochen gehört – hier Teil I ihrer Zusammenstellung. Teil II folgt nächste Woche.

Adele: 21Erwachsen

Muss man ein Mindestalter erreicht haben, um eine Diva zu sein? Wohl nicht, denn die 22-jährige Londonerin Adele Laurie Blue Adkins, kurz Adele, wird trotz ihrer Jugend als die neue Souldiva gehandelt. Man könnte jetzt unken, dass es zurzeit nicht schwer ist, als Hoffnung des Soul zu gelten, da sich andere Mitbewerberinnen selbst aus dem Rennen katapultieren. Amy Winehouse: tragischer Fall. Duffy: hat ein schlechtes Album gemacht. Mariah Carey: mit Familiengründung beschäftigt. Mary J. Blige: dreht einen Film über Nina Simone und ist eigentlich nur noch in den USA erfolgreich. Also Adele: Ihre Debütsingle „Chasing Pavements“ und das Album „19“ bescherten ihr vor drei Jahren Mercury- und Grammy-Nominierungen und hohe Chartplatzierungen. Mit ihrem Zweitling „21“ (wieder nach ihrem Alter während der Aufnahmen benannt) erfüllt Adele gesteckte Erwartungen und übertrifft sie noch – wenn man Hitparadenplatzierungen als Maßstab nimmt. Denn „21“ klingt nur selten wie das Album einer jungen Sängerin, sondern nach einem generalstabsmäßig auf ‚erwachsen‘ getrimmten Produkt.

Die Songs wurden zwar von Adele mitkomponiert, ihr partner in crime, Producer Paul Epworth sorgte für den endgültigen Schliff. Als Einflüsse nennt Adele Tom Waits, Kanye West, Wanda Jackson und Mary J. Blige. In „He Won’t Go“ erweist sich Adele als besonders aufmerksame Blige-Schülerin, mit Gesang voll Drama, Tremolo und Emotion. Die Stimme ist Adeles Kapital: sie kann The Cures „Love Song“ covern, mit „Rumour Has It“ eine druckvolle Tanznummer à la Motown schmettern, mit gefühlvollen Balladen wie „Turning Tables“ und „I’ll Be Waiting“ beeindrucken und mit „Set Fire To The Rain“ sogar eine Spur zu dick auftragen – Adele schafft alles. „21“ handelt ausschließlich von unglücklicher Liebe. Es ist eine dieser ewiggültigen, unangefochtenen Behauptungen, dass nur das Unglück große Kunst hervorbringt – wir wünschen Adele an dieser Stelle künftig mehr Glück in der Liebe, denn ein bisschen jugendlichen Übermut sollte sie sich durchaus leisten. Ihre Musik wird darunter nicht leiden.

Adele: 21. XL/Beggars.
Die Homepage der Künstlerin, Adele auf Myspace und bei Facebook.

Caroline: Verdugo HillsVielseitig

Die japanische Musikerin und Sängerin Caroline Lufkin machte vor fünf Jahren von sich reden, als sie einen lukrativen Major-Vertrag platzen ließ, der ihr eine strahlende Karriere wie ihrer Schwester Olivia garantiert hätte. Caroline wollte sich aber keine Laufbahn vorschreiben lassen, sondern ihren eigenen Weg gehen, selbst bestimmen, wie sie komponieren, aufnehmen, performen will. Das klingt nach einer entschlossenen, resoluten Frau – die Caroline möglicherweise auch ist, ihre Musik dagegen klingt ganz anders. Schwebend, schwerelos, wie Sternenstaub auf Engelsflügeln, wie ein impressionistisches Gemälde. Carolines zarter Gesang erinnert an Julee Cruise, nur ohne die David-Lynch’sche unheimliche Stimmung, die auf Cruises Platten herrscht. „Verdugo Hills“ ist wie sein Vorgänger „Murmurs“ heiter und melancholisch zugleich, Caroline mixt sanften Clicks-and-Cuts-Elektro mit akustischen Instrumenten und arrangiert die Stücke an der Schnittstelle von westlichem Pop und japanischer Tradition. Die minimalistisch produzierten Tracks heißen schlicht „Balloon“, „Swimmer“, „Sleep“ oder „Lullabye“ und entwickeln trotz Zartheit und Zeitlupen-Tempo einen unwiderstehlichen Sog. „Verdugo Hills“ enthüllt seine zauberhaften Melodien nicht gleich beim ersten Hören, die Stücke benötigen ein wenig Zeit und Muße. Dann aber nisten sie sich für immer in Ohr und Herz ein, „Miniatursymphonien für die Seele“ nennt das Label Carolines Songs, und treffender könnte man es kaum sagen. Die letzten beiden Stücke, „Snow“ und „Gone“ fallen mit lebhafteren Beats und überraschenden Details wie Militärtrommeln aus dem Rahmen, zeigen aber auch, dass Caroline eine vielseitige Musikerin ist, die sich das Heft nicht aus der Hand nehmen lässt.

Caroline: Verdugo Hills. Irascible Distribution.
Die Künstlerin auf Myspace und bei Twitter sowie ihre Website.

Marianne Faithfull: Horses And High HeelsIn Reinform

Marianne Faithfulls Biographie ist popkulturelles Allgemeingut. Die Musik der 64-Jährigen ist untrennbar mit ihrer Lebensgeschichte verbunden – unmöglich, einen ihrer Songs zu hören, ohne ihre aristokratische Herkunft, ihr wildes Leben in den Sechzigern, ihre frühe Karriere, ihre Liebschaft mit Mick Jagger, ihre Heroinsucht, ihren Absturz, ihr Comeback mit „Broken English“, ihre Krankheiten, Filme, Brecht/Weill-Interpretationen etc. pp. im Hinterkopf zu haben. Das rührt unter anderem auch daher, dass Faithfull sehr regelmäßig neue Platten veröffentlicht, zu denen regelmäßig Rezensionen erscheinen, in denen regelmäßig ihr Lebenslauf wiederholt wird. Und dennoch wird man nie müde, der Grand Dame zuzuhören, denn ihre Stimme ist so sagenhaft verlebt, vernarbt, kaputt und weise, dass sie auch dem schlichtesten Song, dem unbedarftesten Text eine gehörige Portion memento mori einhaucht. Seit Jahren arbeitet Faithfull mit dem Produzenten Hal Willner zusammen, der ihren heiseren Sprechgesang ins Zentrum stellt und die Musik sachte drumherum arrangiert. Berühmte Freunde wie Lou Reed und Wayne Kramer dürfen Gitarre spielen, sich aber nicht zu sehr in den Vordergrund drängen. Das ist auch auf „Horses And High Heels“ so, auf dem Faithfull wieder hauptsächlich Songs anderer Künstler wie Elton John („Love Song“) interpretiert, vier Stücke hat sie gemeinsam mit Doug Pettibone geschrieben. Anders als auf den letzten Platten aber gibt es keine Auftritte von Gastsängern wie Antony Hegarty oder Rufus Wainwright. „Horses And High Heels“ ist Faithfull in Reinform, obwohl die meisten Songs von anderen erdacht wurden. Es klingt banal, aber es ist so: Marianne Faithfull macht jedes Lied zu ihrem eigenen. Und so kann man sich Greg Dullis Ballade „The Stations“ nicht anders als in Faithfulls düsterer Darbietung vorstellen, dito Allen Toussaints Schnulze „Back In Baby’s Arms“, selbst den recht müden Country-Blues „No Reason“ von Jackie Lomax füllt sie noch mit Bedeutung. Und doch sorgen die Eigenkompositionen wie der Titelsong oder „Why Did We Have To Part“ für die stärksten Momente – vielleicht weil Faithfull doch selbst am besten weiß, wie man sich als Überlebende einer solchen Biographie, siehe oben, fühlt.

Marianne Faithfull: Horses And High Heels. naive.
Die Homepage von Marianne Faithfull. Die Künstlerin auf Myspace und bei Facebook.

New Found Land: The BellZiemlich glücklich

Scheint ein Trend zu werden, dass sich nicht nur Elektro-Künstler aus aller Welt in Berlin niederlassen, sondern auch Singer-/SongwriterInnen: Kat Frankie zog es von Sydney in die deutsche Hauptstadt, seit einiger Zeit lebt auch die Schwedin Anna Roxenholt alias New Found Land im „dicken B“. Grund für Roxenholts Umzug: die Liebe! Der Musik von New Found Land (welch passendes Pseudonym, by the way) tat der Ortswechsel jedenfalls sehr gut. Klang ihr Debüt „We All Die“ von 2009 sehr fragil, fast ein wenig verhuscht, ist „The Bell“ schon von der Instrumentierung her viel üppiger und fröhlicher geraten. Anna stockte New Found Land vom Duo zur mehrköpfigen Band auf, zu den von ihr selbst gespielten Saxophon, Gitarre, Keyboard, Klavier und Percussion kamen noch Tuba, Vibraphon, weitere Gitarren und ein Schlagzeug hinzu. Die Songs sind ausgereifter arrangiert und bestechen durch poppig-eingängige Melodien, die nie mit zu viel Zierrat überhäuft werden, sondern stets dem Lo-Fi-Folk verbunden bleiben. Songs wie „Love In Itself“ und „A Storage Plan“ sind echte Hits, die mit originellen Einfällen begeistern – und sogar tanzbar sind. Anna Roxenholt singt mit heller, klarer Stimme und vielen „oh-oh’s“ und „o-ah’s“, ihre Texte sind dagegen ernst und zweifelnd, teils regelrecht morbid, was stark mit der eher fröhlichen Musik kontrastiert. Einen „freudvollen Todestanz“ nennt das Label „The Bell“ – was allerdings in die falsche Richtung führt, denn New Found Land spielen ja keinen Gothic mit Kindergesang. Nein, in ihren besten Momenten erinnert Anna Roxenholt atmosphärisch und stimmlich an Lisa Loeb, und in den schwächeren Momenten… halt, die gibt es gar nicht! „The Bell“ klingt wie das Album einer verliebten Frau, die an ihrem neuen Wohnort ziemlich glücklich ist – und darüber die schweren Zeiten nicht vergessen hat.

New Found Land: The Bell. Fixe Records (Vertrieb: Broken Silence)
Die Homepage der Band. New Found Land auf Myspace.

Kitty Solaris: Golden Future ParisLeicht, klug, nachdenklich

Irgendwer hat für Kitty Solaris‘ Musik mal den Begriff „Küchenfolk“ erfunden, den sie selbst nicht ganz verstehen kann. Wahrscheinlich entstand dieser Begriff, weil Kitty Solaris mit ihrer Gitarre eher lo-fi statt hi-fi musiziert und gerne Freunde in ihre Küche einlädt. Kitty nennt ihre Musik schlicht und einfach „Pop“ und trifft es damit am allerbesten. „Golden Future Paris“, nach „Future Air Hostess“ und „My Home Is My Disco“ drittes Album der Berliner Musikerin, Sängerin und Labelbetreiberin, wartet gleich zu Beginn mit drei Hits auf, die man in diesem Frühling nicht mehr aus dem Kopf bekommen wird: der Titelsong, „Beggar And King“ und „Get Used To It“ klingen so frisch und luftig, dass man sich die leider noch notwendige Strickjacke aufknöpft und eine Sonnenbrille ins Haar steckt, für alle Fälle. Die ganze Platte ist voll sonnendurchfluteter Leichtigkeit, abwechslungsreich und charmant, dabei in den Texten klug und nachdenklich. „Get Used To It“ tänzelt auf einem lateinamerikanischen Rhythmus daher, bei „Gitano“ ertönen Balkan-Bläser, „Better Run“ bekommt mit Akkordeonklängen französisches Flair und chansonesken Charakter eingehaucht. Rock’n’rollig-wild wird es bei „Table For Dancing“, Hip-Hop-Einflüsse finden sich in „Five Minutes“, und „Isolation“ verrät die Postpunk-Begeisterung seiner Urheberin. Unterstützt von Brandon Miller an der Gitarre, Steffen Schlosser am Schlagzeug, dem serbischen Pianisten Nicola Jeremic und Damir Bacikin an der Trompete ist Kitty Solaris – übrigens Titelheldin des aktuellen Missy Magazines – ein wunderbares Popalbum gelungen, das ihr hoffentlich zum längst verdienten Ruhm verhilft. Und dann wird eine große Party in der Küche gefeiert!

Kitty Solaris: Golden Future Paris. solaris empire.
Die Homepage der Künstlerin, Solaris Empire, Kitty Solaris auf Myspace und bei Facebook.

Those Dancing Days: Daydreams And NightmaresÜbermut und gute Laune

Knapp drei Jahre sind seit der Veröffentlichung von „In Our Space Hero Suits“ vergangen, dem Debütalbum von Linnea Jönsson, Rebecka Rolfart, Cissi Efraimsson, Lisa Pyk und Mimmi Evrell, besser bekannt als Those Dancing Days. In der Zwischenzeit war das schwedische Frauenquintett viel unterwegs, spielte in Russland, Südamerika, Japan, China, den USA und bestimmt auch irgendwo in eurer Nähe. Während der -zig Auftritte konnten die Damen ihre skills an den Instrumenten enorm verbessern, was man dem neuen Album deutlich anhört. Aber zum Glück sind Those Dancing Days nicht zu verbissenen Muckerinnen mutiert, sondern haben sich ihren jugendlichen Übermut und die überbordend gute Laune bewahrt. „Daydreams And Nightmares“ ist noch stärker als das Debüt von den 1980ern beeinflusst: die fröhlich fiependen Synthies von „Can’t Find Entrance“ oder die euphorischen, poppigen Melodien von „I’ll Be Yours“ und „Reaching Forward“ beamen die Hörerschaft direkt nach 1982, als Bananarama und die Go Go’s ihre tollste Zeit hatten. „Fuckarias“ ist wild und furios, hier könnten die frühen Blondie und Runaways Patinnen gewesen sein. Ganz im Gegensatz zum missratenen letzten Album der Pipettes wirkt „Daydreams And Nightmares“ aber nicht wie ein bemühtes Achtziger-Revival. Those Dancing Days wollen Spaß haben, singen, tanzen, wild Gitarre spielen – und dafür bietet sich fröhlicher Girlpop einfach an. TDD stülpen sich kein Soundkorsett über, das ihnen nicht steht – sie sind so, wie sie klingen, und das ist höchst sympathisch. So viel guter Stimmung schadet ein wenig gebremster Schaum nicht: bei „When We Fade Away“ und dem außergewöhnlich arrangierten „One Day Forever“ schlagen Those Dancing Days ruhigere Töne an.

Those Dancing Days: Daydreams And Nightmares. Cooperative (Vertrieb: Universal)
Die Homepage der Band. Those Dancing Days auf Myspace und bei Facebook.


Sea Of Bees: Songs For The RavensUnschuldig

Die 26-jährige Musikerin und Sängerin Julie Ann Baenziger stammt aus Sacramento/Kalifornien – das Presseinfo weist allerdings vehement darauf hin, dass „Jules“ kein typisches California Girl ist. Eher introvertiert und scheu statt sexy und selbstbewusst, ein wenig verrückt, aber zufrieden mit sich und ihrem Leben. Sie brachte sich selbst das Gitarrespielen bei und sang dazu – ein befreundeter Studiobesitzer hörte sie und ermutigte sie, eigene Platten aufzunehmen. Sie gründete die Band Sea of Bees, und nach ihrer Debüt-EP „Ee Bee Pee“ ist nun der erste Longplayer erhältlich. Von „Songs For The Ravens“ geht ein ganz besonderer Zauber aus, der durch die eigentümliche Verbindung von Melancholie und Zuversicht, Traurigkeit und Fröhlichkeit, Fragilität und Lebenslust entsteht. Musikalisch schöpft Julie/Jules aus dem großen Americana-Topf, mischt behutsam Country und Folk, Pop und Rock; sie spielt Marimba und Slideguitar, Glockenspiel und Keyboards, Bass und Gitarre, lediglich Drums und Percussion werden von ihren Bandkollegen übernommen. Aber zuerst ist da Jules‘ Stimme: klar und aufrichtig, wie aus dem Schulchor, aber nicht naiv und kindlich, sondern reif und klug. Jules bringt die Songs zum Leuchten, das leichtfüßige „Willis“, das träge „Marmalade“, das rockige „Wizbot“ und das energische „Sidepain“. „Songs For The Ravens“ klingt auf angenehme Weise unberührt von der großen weiten Welt des Pop, ohne dabei weltfremd zu sein. Julie/Jules lebt und musiziert in ihrem eigenen Kosmos, aber es ist nicht schwer, zu ihr zu gelangen. Man wünscht Julie Ann Baenziger, dass sie sich diese zarte Eigenständigkeit, man mag es kaum hinschreiben: ihre ‚Unschuld‘ bewahrt – und falls ihr das nicht gelingt, bleibt doch „Songs For The Ravens“. Eine Platte wie das seltsame, faszinierende Mädchen aus der letzten Bank.

Sea Of Bees: Songs For The Ravens. Cooperative (Vertrieb: Universal)
Sea Of Bees auf Myspace und bei Facebook sowie ihre Homepage.

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