Für Teil II der „Damenwahl“ hat Christina Mohr wieder neue Alben junger Musikerinnen gehört – dabei sind diese Woche Platten von Natalie Beridze, Britta Persson, Julia Stone, Nikka Costa, DJ Marcelle, Gregory and the Hawk und Missincat.
Elektro-Chansons
Natalie Beridze alias TBA ist eine Monika-Künstlerin par excellence: Monika Enterprise, das Label der Berliner Elektropionierin Gudrun Gut, steht für weiche, warme, fließende Klänge, vornehmlich von weiblichen Acts. Masha Qrella, Barbara Morgenstern, Chica and the Folder sind die bekanntesten Namen, auch Gudrun Gut selbst veröffentlicht auf dem Monika-Label, das sie nach ihrem Goldfisch benannt hat. Natalie Beridzes georgische Herkunft passt zudem gut zu Monikas internationaler Ausrichtung (Gudrun Gut kann auf eine riesige asiatische Fangemeinde verweisen, die Monika-Website ist komplett in Englisch), erste Eindrücke von Beridzes Schaffen bekam man auf dem Monika-Sampler „4 Women No Cry I“ und auf einer im letzten Sommer erschienenen EP. Das Album „ForgetFulness“ besticht durch Ruhe und Entspanntheit, die keinesfalls mit Leidenschaftslosigkeit verwechselt werden darf. Natalie Beridze zündelt hinter ihren Geräten und mit ihren Texten zuweilen beträchtlich, Tracktitel wie „What About Things Like Bullets“ (schon jetzt ein Clubhit), „Half This Game Is Ninety Percent Mental“ und „When Dreams Become Responsibility“ sprechen für sich. Beridze mixt Elektronik mit ‚echtem‘ Klavier und singt dazu, wirkt mal klassisch, mal technoid. Eine entrückte Tanzbarkeit ergibt sich durch fast unmerklich eingewobene Grooves, sanft, dicht, und bestimmt. Natalie Beridze hat bis auf das nur auf dem Klavier gespielte „Blue Shadow“ (vom japanischen Starpianisten Ryuichi Sakamoto) alle Stücke selbst komponiert – was die Erwähnung wert ist, denn gerade im Elektro kommt der Song, die Melodie oft zu Gunsten des Sounds zu kurz. Nicht so bei Beridze: vor allem die ersten vier Stücke auf „ForgetFulness“ sind perfekte Elektro-Chansons mit hohem Wiedererkennungswert. „ForgetFulness“ ist schon jetzt einer der Höhepunkte des noch jungen Musikjahres 2011, und man kann Monika Enterprise zur Entdeckung dieser Künstlerin nur gratulieren!
Natalie Beridze/TBA: ForgetFulness. Monika (Morr Music).
Natalie Beridze auf Myspace.
Kratzbürstig
Bescheidenheit ist Britta Perssons Sache nicht: „’Current Affair Medium Rare‘ ist eine der besten Platten der letzten Zeit“ jubiliert die schwedische Singer/Songwriterin über ihr neues Album, und schon nach den ersten Tönen will man ihr eigentlich sofort beipflichten. Persson hat ihr drittes Album in sechs Jahren selbst aufgenommen und produziert, unterstützt von ein paar Musikerkollegen und den Katzen, die sich im idyllisch in Südschweden gelegenen Studio herumtrieben. Die zehn Songs auf „Current Affair Medium Rare“ bestechen durch Do-it-Yourself-Charme, Perssons näselnde Stimme und ein umfassendes Popverständnis: von Abba über Girlgroups wie die Ronettes, von The Cure bis zu den Breeders lassen sich jede Menge Einflüsse ausmachen. Und weil Britta Persson ja Schwedin ist, klingt das Ganze immer auch wie schwedischer Indie-Pop: leicht, perfekt und hitverdächtig. Mit einem kleinen Unterschied: Brittas Texte sind sehr kratzbürstig. Der Opener „Annoyed To Death“ ist bei oberflächlichem Hören ein Sixties-beeinflusster Schmachtfetzen, Zeilen wie „Trust me, I am over you/ This is just a pleasure of the night/ A satisfaction just as true as any caused by you/ A waste of time most people would say/ But hey, they don’t know what it is like/ How good it feels to watch you get/Annoyed to death“ sprechen eine andere Sprache. Auch vorgeblich zuckersüße Popsongs wie „Toast to M“ oder die reduzierte Ballade „If You Don’t Love Him“ verraten ihre Autorin als selbstbewusste Erbin Pippi Langstrumpfs, mit der man besser keinen Ärger anfängt. Dafür gibt es auch keinen Grund, denn „Current Affair Medium Rare“ macht Spaß und hilft in schweren Lebenslagen. Schon allein deshalb eine gute Platte. Jetzt das ‚Aber‘: Wenn Persson in punkto Eigenlob schon so auf den Putz haut (siehe oben), dürfte sie gern ein bisschen wagemutiger sein. Denn – und da ist Britta ganz Schwedin – musikalisch tut „Current Affair Medium Rare“ niemandem weh.
Britta Persson: Current Affair Medium Rare. Selective Notes/Razzia (Soulfood).
Die Homepage der Künstlerin. Britta Persson auf Myspace und bei Facebook.
Düster und morbid
Für Julia Stones Solodebüt „The Memory Machine“ muss man sich ein wenig Zeit nehmen. Zu groß wäre sonst die Gefahr, die Australierin als eine unter vielen Singer-Songwriter-Elfen einzuordnen, sie wegen ihrer mädchenhaft fragilen Stimme als harmlos abzutun, siehe Gregory and the Hawk. Doch der Blick aufs Horrormovie-Cover verrät, dass Stone, die in Australien mit ihrem Bruder Angus seit einigen Jahren als äußerst erfolgreiches Duo unterwegs ist, keine mit lila Tinte verfasste Teenagerlyrik vertont. Julia Stones Texte sind düstere, morbide Geschichten, die oft aus ihrem persönlichen Erfahrungsschatz stammen. Die Arrangements und Kompositionen sind so delikat und raffiniert, dass man erst beim zweiten, dritten Durchgang bemerkt, wie gut die Songs sind. Stone drapiert Bass, Ukulele, Piano, Percussion und Gitarre scheinbar unauffällig, aber punktgenau und wirkungsvoll um ihre charakteristische Stimme herum. „What’s Wrong With Me?“ ist ein zwar augenzwinkernder, aber deshalb nicht minder verstörender Seelenstrip, in diesem Stück holt Julia aus ihrer Stimme alles heraus und klingt gar nicht mehr süß und zart. Songs wie „Where Does The Love Go“ erinnern an die fabelhafte Edie Brickell, das von heiteren Trompeten untermalte „Catastrophe“ kann sich mit Van Morrissons „Brown Eyed Girl“ messen, der melancholisch-balladeske Titeltrack ist von Leonard Cohens Songwriting beeinflusst. Aber man sollte sich mit Verweisen und Vergleichen nicht zu sehr ablenken, denn Julia Stone hat ihren eigenen Stil längst gefunden. Man muss ihr nur genau zuhören.
Julia Stone: The Memory Machine. Flock Music (PIAS).
Die Künstlerin auf Myspace.
Sommerhits
Im Frühjahr 2010 war ein Song in aller Ohren und Radios: „Ching Ching Ching“ von der amerikanischen Sängerin Nikka Costa. Das dazugehörige Album „Pro Whoa“ war bereits für letzten Sommer angekündigt, aber die Plattenfirma verschob die Veröffentlichung um ein gutes halbes Jahr, im Popbusiness eine lange Zeit. Und man muss befürchten, dass „Pro Whoa“ untergehen wird, denn so wie das fröhliche „Ching Ching Ching“ der perfekte Sommerhit war, klingen auch die restlichen Songs des ehemaligen Kinderstars eher nach Strandbar und Straßencafé als nach zögerlichem Frühlingserwachen. Auf ihren früheren Alben „Everybody Got Their Something“ und „Cantneverdidnothing“, die wie „Pro Whoa“ in gemeinsamer Arbeit mit Nikkas Ehemann entstanden, huldigte die Tochter des berühmten Studiomusikers Don Costa noch ausschließlicher Funk und Soul als sie es auf „Pro Whoa“ tut: tanzbare Beats sind nach wie vor die Hauptsache, aber Nikka, die schon mit Lenny Kravitz und Prince zusammenspielte, arbeitet sich an der ganzen Palette zeitgenössischen clubtauglichen Pops ab – Funk, Soul, R’n’B, Disco, Elektro, sogar eine Verballhornung von Stadionrock („Song For Stadiums“) ist dabei. „Everybody Loves You When You’re Dead“, das sie gemeinsam mit Sam Sparro singt, ist Michael Jackson gewidmet – einem ihrer großen Idole. Und irgendwie klingt Nikka, die längst kein kleines Mädchen mehr ist, sondern Mutter einer fünfjährigen Tochter und seit Jahrzehnten im Musikgeschäft, auch heute noch so, als wolle sie in erster Linie gefallen: ihrem Vater, Michael Jackson, Prince, wem auch immer. Dabei könnte sich Nikka voll und ganz auf sich selbst verlassen – sie hat eine tolle Stimme, sieht super aus, ist witzig, spielt verschiedene Instrumente und tanzt besser als Madonna. Also, liebe Frau Costa, trauen Sie sich beim nächsten Album mal richtig was! Sie können das!
Nikka Costa: Pro Whoa. Virgin (EMI).
Die Homepage der Sängerin. Nikka Costa auf Myspace und bei Facebook.
Extra-Spezialtipp
Vergesst alle handelsüblichen DJ-Mixe: die niederländische DJ-Künstlerin Marcelle wirft mit ihrem zweiten „Another Nice Mess“-Album jegliche festgefahrenen Erwartungen über den Haufen. Die als einzige würdige Nachfolgerin John Peels gehandelte Marcelle, die in den Niederlanden, England und Deutschland eigene Radioshows hostet, legt nicht einfach Platte nach Platte nach Platte auf, sie benutzt das Mischpult wie ein Instrument. „Another Nice Mess II“ besteht – unterteilt in vier Kapitel namens „The Donau Mix“, „The Adventurous Mix“, „The Safari Mix“ und „The Perfect Mix“ – aus 50 Tracks in 78 Minuten, in denen Marcelle von Drum’n’Bass über Cumbia-Rhythmen, Techno, Postpunk, Dubstep, Weltmusik, Jodeln, Geräusche von Lokomotiven, tierische und menschliche Stimmen und vieles mehr zu einem wahrhaft unerhörten Trip verarbeitet. HamburgerInnen können sie regelmäßig im Golden Pudel Club erleben, Vinyl-Aficionado Marcelle (man erzählt sich, sie besäße weit über 15.000 Platten) bespielt aber auch New York, Paris und andere Metropolen.
DJ Marcelle: Another Nice Mess II/Meets More Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory. Klangbad.
Die Website der Künstlerin. DJ Marcelle auf Myspace.
Klar und leicht
„Soulgazing“ und „Dream Machine“ heißen zwei Songs vom neuen Album von Meredith Godreau, alias Gregory and the Hawk. Die Titelnamen zeigen die Richtung an, die die New Yorker Musikerin und Sängerin schon auf ihrem Debütalbum „Moenie And Kitchi“ (2008) eingeschlagen hatte und nun auf „Leche“ weiterverfolgt: zarter, verträumter Folkpop, der der harten, kalten Realität ein Sträußchen Vergißmeinnicht unter die Nase hält. Meredith legte sich ein Pseudonym zu, um nicht in der Singer/Songwriter-Schublade zu landen – und dabei klingt Gregory and the Hawk so poetisch und singer/songwritermäßig wie nur wenige andere Künstlernamen, selbst wenn man nicht weiß, dass Gregory Merediths kleiner Bruder ist, der als Kind mit einem imaginären Falken spielte… aber dies nur am Rande. Die zwölf Songs auf „Leche“ sind feinziselierte Skizzen, von diversen Saiteninstrumenten wie Violine, Banjo und Gitarre untermalt, dazu haucht Meredith mit mädchenhafter Stimme emotionale, nachdenkliche Lyrics. Joanna Newsom könnte einem als Vergleich einfallen, aber Gregory and the Hawks Lieder sind weder überspannt noch überladen, im Gegenteil bestechen sie durch Klarheit und Leichtigkeit. „Leche“ ist von den vielen Reisen inspiriert, auf denen sich Meredith als Supportact von The Album Leaf und múm befand. Die Eindrücke vom Unterwegssein („Landscapes“) kontrastieren mit dem Wunsch nach Sicherheit („A Century Is All We Need“, „Hard To Define“), und wie bei vielen US-amerikanischen Singer/Songwritern (den Stempel bekommt sie doch aufgedrückt) ist das paradoxe Lebensgefühl spürbar, das das Metropolendasein (NYC) innerhalb eines riesigen, weiten Landes wie den USA mit sich bringt. Balladeskes wie „Leaves“ überwiegt, und doch sind es die temporeicheren, lebhaften Songs wie „Olly Olly Oxen Free“, die hängen bleiben, die man sofort mitpfeift und -summt. „Leche“ ist die perfekte Begleitung für einen eskapistischen Tag auf dem Sofa und doch wünscht man sich zuweilen ein bisschen mehr urbanen Schmutz – dafür muss Gregory/Meredith noch nicht mal weit verreisen, ein Spaziergang in Williamsburg genügt!
Gregory and the Hawk: Leche. fatcat records.
Die Homepage der Künstlerin. Gregory and the Hawk auf Myspace und bei Facebook.
Unbekümmert
Sie möchten die Welt ein wenig verschönern? Manchmal ist das ganz einfach: Das neue Album von Missincat besorgen und beim Abspielen die Fenster öffnen, damit die Nachbarn auch was davon haben. Der Titel „Wow“ weckt allerdings falsche Erwartungen, denn die zweite Platte der Italo-Berlinerin Caterina Barbieri alias Missincat birgt keine Aufreger, die einem den Atem stocken lassen. Das Cover hingegen entspricht dem Inhalt wesentlich besser: „Nice“ wäre ein passenderer Albumtitel gewesen, oder „Hello“, oder „How Are You?“. Ihrer Musik nach zu urteilen ist Missincat nämlich supernett, ohne zu aufdringlich zu sein. Sie öffnet freundlich ihre Tür, lädt zu Kaffee und Kuchen – und ehe man sich versieht, fühlt man sich mit ihr total wohl. Nach ihrem überraschend erfolgreichen Debüt „Back On My Feet“ (2009), dessen Titeltrack eine Nintendo-Werbekampagne untermalen durfte, bleibt Missincat mit „Wow“ ihrer Linie treu, ohne in Stillstand zu verfallen. Barbieri geht nach wie vor höchst unbekümmert an die Musik heran, mixt Singer-Songwriter-Folk mit Jazz, Walzertakten und Zirkusmusik, verwendet Banjo, Cello, singende Säge, Mellotron und Melodica, Posaune, Gitarre, Saxofon und Schlagzeug. Dabei klingen die Songs nie überladen, sondern immer leicht und aufgeräumt. Missincats Stimme klingt jung und mädchenhaft, aber nicht zu niedlich, ein paar Zigaretten dürfte sie schon geraucht haben. GastsängerInnen wie Miss Li aus Schweden (sehr hübsch das Duett „Distracted“) verbreiten familiär-freundschaftliche Stimmung. Die sanfttraurige, auf Italienisch gesungene Ballade „Capita“ erwärmt das Herz ebenso wie die sehnsuchtsvolle Single „I Wish You Could Allow“ oder das fröhliche „Try Me“ – „Wow“ bringt die ersten Krokusse zum Blühen und sollte auch die vermisste Katze wieder nach Hause locken.
Missincat: Wow. R.D.S. (Cargo).
Die Homepage von Missincat. Die Künstlerin auf Myspace und bei Facebook.
Christina Mohr