Entdeckenswerte Compilations
Erwähnte ich schon mal, dass ich auf Sampler stehe? Auf gut kompilierte natürlich, nicht auf „Skihüttengaudi Teil 211“ mit den tollsten Hits von Helene Fischer und DJ Ötzi. Nein nein, ich will schon was geboten bekommen und Dinge erfahren, die ich vorher noch nicht wusste, Zusammenhänge endlich verstehen lernen… Okay, ich weiß, dass das viel verlangt ist und nicht immer eingelöst werden kann.
Das Kölner Label le pop musik beispielsweise veröffentlicht in schöner Regelmäßigkeit Sampler mit dem Claim „Les chansons de la nouvelle scène française“, die kein bisschen gelehrsam daherkommen, sondern Genuss ohne Reue garantieren. Inzwischen ist die „le pop“-Reihe bei Nummer acht angelangt und auch dieses Mal tritt spätestens nach dem zweiten, dritten beschwingten Song (FALSCH: Chanson!) der Effekt ein, dass man sich fragt, warum man überhaupt noch andere Musik außer frankophoner hört. Wie elegant und leicht, wie inspiriert, vielfältig und zeitlos in Frankreich und Belgien der Mix aus Tradition (Chanson, Beat, Yéyé) und Moderne (Pop, Elektronik) gelingt – das ist ganz wundervoll und ich muss wohl nicht nochmal den Namen Helene Fischer erwähnen, um zu belegen, wie wenig selbstverständlich das ist. Erstaunlich ist indes, dass hierzulande gar nicht so viele aktuelle französische PopkünstlerInnen bekannt sind – abgesehen von denen, um die sich das le pop-Label besonders kümmert, wie zum Beispiel Fredda, Françoiz Breut oder Camille, deren Alben auch in Deutschland und anderswo die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. Da ist es also Pflicht der geneigten Hörerschaft, den weniger populären Namen Herz und Gehör zu leihen: Der Indiepop-Newcomerin Liz De Lux oder den fluffigen Reggae-Anleihen von Vianney, den dunkelgetönten Chanteusen Babx und Juniore und natürlich den Herren, die ganz in der Tradition Jacques Brels oder Charles Aznavours stehen: Bertrand Belin, der sich mit „Un déluge“ in vorderste Ränge schmachtet oder auch der belgische Popstar Benjamin Schoos, der keine Geringere als Laetitia Sadier für das Duett „Une dèrniere danse“ gewinnen konnte. Sehr schön, das alles.
http://vimeo.com/90981038
Zur Kategorie „Gebrauchsmusik“ gehört die erfolgreiche Compilation-Reihe „La Nuit“ vom Label Embassy One. Im Promoinfo zu „La Nuit Vol. 7“ heißt es professionell und kundenorientiert: „… und entführt den Zuhörer mit ihrer aktuellen Selection erneut in eine Welt, in der man abschalten kann und die dem hektischen Rhythmus des Alltags mit anspruchsvollem Chillout entgegenwirkt.“ Alles klar, hier kommt Musik für die mit dunkelbraunem Kunstleder ausgekleideten After-Work-Bars und -Lounges dieser Welt, wo gestresste BankerInnen die Jacketknöpfe öffnen und Martinis schlürfen dürfen. Der Sound, der die After-Work-Gespräche untermalt, darf natürlich nicht allzu prägnant sein, weshalb die bereits erwähnte „Selection“ zwar mit berühmten Namen glänzt, aber keinerlei Störelemente beinhaltet: Der Opener „Monument“, eine Kooperation von Röyksopp & Robyn, ist schmusig-theatralisch, aber nichts für den Dancefloor wie „Do It Again“, in ähnlichem Stil geht es weiter mit Tracks von Oceana, Avicii, Tom Novy, Alle Farben, Chet Faker, Groove Armada, Moby und sogar Moderat („Bad Kingdom“ im DJ Koze-Remix); auch The/Das, oder Booka Shade sprechen für Geschmack und Kennerschaft der Kompilatoren.
Insgesamt bleibt jedoch wenig hängen von den vierzig (!) seidig-sanften Stücken, die runtergehen wie ein Batida-de-Coco-Longdrink und bestimmt keinen Hangover verursachen, …
… möglicherweise aber den Hunger auf gehaltvollere Kost schüren. Wie wäre es in diesem Fall zum Beispiel mit dem Jubiläumssampler des sympathischen Londoner Labels Full Time Hobby, das seit zehn Jahren Acts wie Tunng, Fujiya & Miyagi, School of Seven Bells, Timber Timbre, Hooded Fang, Smoke Fairies oder Cheek Mountain Thief veröffentlicht? Die kurze Auswahlliste zeigt es schon: Engstirnige Grenzen werden von den FTH-Leuten nicht gezogen; es gibt einen spürbaren Schwerpunkt auf freaky Folk bärtiger Barden, was aber mit dem Elektro-Dance von Fujiya & Miyagi, den rockigen White Denim oder den shoegazenden Smoke Fairies gleich wieder konterkariert wird. Das Labelcredo lautet schlicht: Nur die Musik rausbringen, die man für wirklich gut und herausbringenswert hält. Der Rest findet sich dann schon – und trägt ja oft genug erfolgreiche Früchte, siehe Timber Timbre oder Hooded Fang. Dass die Coverzeichnung von David Shrigley stammt, erhöht den Sympathiefaktor noch und passt wie die Hand an den Euter. Oder so.
Wie gewohnt gehaltvoll, lehrreich, augenöffnend und überraschend ist „Strange & Dangerous Times“, ein neues Erzeugnis aus dem Hause Trikont: Der Fotograf und „Musiksucher“ Sebastian Weidenbach hat für diesen Sampler New American Roots Music zusammengestellt – und zum Glück auch einen erhellenden Text des Dokumentarfilmers Marc A. Littler ins Booklet gepackt. Denn ich (Ignorantin, natürlich) wüsste auf Anhieb wenig zu sagen über die aktuelle Folk- und/oder Roots-Music der USA, in der Punk-Attitüde auf Folk- und Country-Traditionen trifft, Gott gepriesen und verdammt und das Banjo von Slayer-T-Shirt-Trägern gezupft wird. Das ist Musik von und für Underdogs; von Hobos, nicht von BoHos – und ja, sie ist dreckig, ehrlich, authentisch, politisch. Amerikanische Mythen werden beschworen und zerstört; Cowboys, Landstreicher, Ölfeld-Arbeiter, Trailerpeople und Barflys noch und noch bevölkern die Texte. Beeinflusst ganz klar von großen Vorreitern wie Pete Seeger, Johnny Cash, Hank Williams und Bob Dylan, aber auch von Grunge, Hardrock, Blues und Gospel. Von Leuten wie Scott McDougall, James Hunnicutt, Willy Tea Taylor oder Reverend Deadeye hat man hierzulande noch nie gehört – aber es lohnt sich, ihnen zuzuhören. Das Roots-Ding scheint eine sehr homogene Angelegenheit zu sein: Weibliche Acts sind auf dem Sampler nicht vertreten.
Das ist auf der Soul-Jazz-Compilation „No Seattle“ fast genauso, aber eben nur fast: Die Grunge-Szene abseits vom übermächtigen Seattle hatte doch auch ein bisschen Platz für Frauen. Die wurden zwar in den seltensten Fällen berühmt, aber das wurden die männlichen Kollegen auf diesem Sampler ja auch nicht. Man kann es Soul Jazz Records nur allerhöchst anrechnen, sich diesem Nebenarm der jüngeren Rockvergangenheit zu widmen: Schließlich heißt Grunge für 99 % der Popgemeinde immer noch Seattle, Nirvana, Pearl Jam, Mudhoney, Melvins, Sub Pop. Wer nur ein paar Kilometer von der „Grunge-Metropole“ entfernt lebte und Musik machte, rutschte vom Grunge-Radar. Oder kennt noch jemand Bands wie Soylent Green aus Stanwood, Bundle of Hiss (Puget Sound), Vampire Lezbos (Spokane) oder The Ones aus Fremont? Na seht ihr. Dabei sind viele der von Soul Jazz ausgegrabenen Bands musikalisch ziemlich interessant, es scheint, als hätte man sich abseits von Seattle einige Experimente zugetraut – und etwas unbekümmerter Hardrock, Punk, Jazz und poppige Elemente gemischt, weil man ja nicht zur „echten“ Szene gehörte.
Die meisten der 28 Stücke auf „No Seattle“ blasen mit ungebremstem Wutschaum durch die Boxen (vor allem Hitting Birth oder Saucer – uh!), geradezu unwillkürlich schüttelt man sein Haar, sei es lang, kurz oder weg. Und da ich oben ja schon von den Frauen geschrieben hatte: Ja, die gab es, zum Beispiel die wundervolle Violinistin (!) der Small Stars, Sarah Standard; die harte Rockband Shug, die keinerlei Interesse daran hatte, zur Riot-Grrrl-Bewegung zu zählen („We wanted to be known for heartfelt soul-crushing music.“ Indeed.) und die fantastischen Calamity Jane, die von Kurt Cobain als Nirvana-Toursupport verpflichtet wurden. Leider verhielt sich die Nirvana-Fan-Posse Joanne Bolme, Gilly-Ann Hanner, Megan Hanner und Marci Martinez gegenüber so entsetzlich ablehnend und gewalttätig, dass sich Calamity Jane nach besagter Tour frustriert auflösten. Schade, CJ hätten Hole den Schneid abkaufen können – aber das Booklet zu „No Seattle“ liest sich ohnehin wie eine Anthologie des Scheiterns und der verpassten Chancen. Nochmaliger Dank an Soul Jazz Records fürs Bewahren dieser flüchtigen KrachmacherInnen.
Christina Mohr
le pop 8: les chansons de la nouvelle scene francaise (le pop musik/Groove Attack). Zur Homepage.
La Nuit Vol. 7: Rare Lounge & Chilled House Grooves (2 CD/ Embassy One)
Full Time Hobby: A Full Time Hobby 10th Anniversary Compilation (2 CD/Full Time Hobby / modo). Zur Homepage.
Strange & Dangerous Times: New American Roots – Real Music for the 21st Century (Trikont/Indigo). Zur Website von Sebastian Weidenbach.
No Seattle: Forgotten Sounds of the North-West Grunge Era 1986 – 97 (2 CD/Soul Jazz Records)