Geschrieben am 14. Dezember 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Gabentisch

Am Ende des Jahres möchte auch Frau Mohr nur Gutes tun und bespricht daher nur Musik und Bücher, die sie guten Gewissens empfehlen kann und die auch sie jederzeit unbesorgt befreundeten Menschen unter den Weihnachtsbaum legen würde.

The Cure: Bestival Live 2011Borderliner des Pop

Ich kenne Leute, die eine Party verlassen, wenn „Love Cats“ gespielt wird. Das finde ich übertrieben, denn bei allen berechtigten Gründen, The Cure zu verachten (Wegbereiter des Gothic-Kults, Robert Smiths Frisur und sein leiernd-klagender Gesang, kapriziöse Kräche innerhalb der Band), gibt es mindestens zehnmal so viele, um The Cure zu lieben: ihre Songs. Die guten natürlich, denn wir wollen und können nicht verschweigen, dass sich gerade auf jüngeren Cure-Alben ziemlich viel Füllmaterial befindet. Aber ist „Just Like Heaven“ nicht das schönste Lied der Welt? Oder „Why Can´t I Be You?“ – selten liegen Hingabe und Hysterie so dicht beieinander. Und „Lullaby“: der langsamste Dance-Track aller Zeiten.

Ach ja, The Cure, die Borderliner des Pop: vom schroff-rauen Postpunk der ersten Platte zu den dunkeltiefschwarzen Depressionen von  „Pornography“, dem verdrogten Gedaddel auf „The Top“ bis zu den fast schon albern fröhlichen Superhits „In Between Days“ und „Friday I´m In Love“- The Cure können mit Fug und Recht von sich behaupten, sich seit 1978 (!) immer wieder neu erfunden zu haben. Wobei man ergänzen muss, dass The Cure im Grunde Robert Smiths Soloprojekt sind, bei dem er sich entweder mit jungen Schergen oder alten Mitstreitern umgibt, manchmal auch mit einer Mischung aus den verschiedenen Generationen. Warum erzählen wir das? Es gibt ein neues Live-Album von The Cure, das erste offizielle seit fünfzehn Jahren, 32 Stücke auf zwei CDs: das komplette Konzert, das Robert Smith und Kollegen als Headliner beim diesjährigen Bestival-Open Air auf der Isle of Wight spielten.

Diesmal war der langjährige Keyboarder Roger O’Donnell wieder mit von der Partie, am Bass – erstaunlich lange schon – Simon Gallup. Wer es schafft, die zweieinhalb Stunden am Stück durchzuhören, erlebt die verschiedenen Bandphasen in konzentrierter Form. Zähflüssiger, bleischwerer Progrock wie „Plainsong“ und „Disintegration“ gehören zum Programm wie die juvenil-wütenden Songs der frühen Jahre („Jumping Someone Else´s Train“, „Grinding Halt“), die Hits sowieso. The Cure wagen wenig Experimente, abgesehen davon, dass „The Caterpillar“ wieder im Programm ist, das Smith lange Zeit nicht live spielen wollte. „A Forest“ hingegen wabert wie seit Jahrzehnten gewohnt unheilsschwanger und mindestens zwanzig Minuten lang von der Bühne, auch „Shake Dog Shake“ klingt so trostlos wie eh und je.

Am meisten Spaß machen und haben The Cure, wenn sie die schweren schwarzen Kutten abwerfen: der behäbige Funk von „Hot Hot Hot!!!“, die angejazzte Version von „Love Cats“ und die unerwartet reinkreischende Gitarre am Schluss von „Close to Me“ gehören zu den Höhepunkten des Albums. Und ja, „Killing An Arab“, das heuer politisch unverfänglich „Killing Another“ heißt, ist auch 32 Jahre nach seiner Entstehung immer noch unglaublich mitreißend. Wer „The Cure Bestival Live 2011“ kauft, tut damit überdies ein weihnachtlich gutes Werk: Robert Smith stiftet alle Einnahmen dem Isle of Wight Youth Trust.

The Cure Bestival Live 2011 (Doppel-CD, PIAS/Sunday Best). Zur Homepage der Band. Zum Bestival 2011.

Gorillaz: The Singles Collection 2001 – 2011Definition von Cool

Im Gegensatz zu The Cure wird Damon Albarns virtuelles Bandprojekt Gorillaz wohl von niemandem für peinlich oder uncool gehalten. Im Gegenteil: die von Tank Girl-Zeichner J.C. Hewlett animierten Musiker 2D, Murdoc Niccals, Noodle und Russel Hobbs sind seit immerhin auch schon zehn Jahren quasi die Definition dafür, wie cool mainstreamkompatibler Pop sein kann. Von Anfang an gingen bei den Gorillaz Bild und Ton Hand in Hand, die Videos und Auftritte sind mindestens so spektakulär wie ihre Musik. Denn Gorillaz sind kein Kinderquatschprojekt wie Alvin und die Chipmunks (erste fiktive Band), sondern Albarns brodelnder Ideenpool.

Noodle, 2D, Murdoc und Russel sind Comicfiguren und „echte“ Musiker, die -zig verschiedene Stile wie HipHop, Elektro, Indiepop und Reggae kombinieren, lässig, zwingend und genialisch. Gorillaz schmoren nicht im eigenen Saft, ständig kommt es zu neuen Kooperationen: Danger Mouse, De La Soul, Ibrahim Ferrer, Mark E. Smith, Lou Reed, Tina Weymouth, Neneh Cherry und Shaun Ryder sind nur einige der Stars, die mit den Gorillaz Songs aufnahmen.

Nach dreizehn Jahren Bandgeschichte, drei Studioalben, einem Film und unzähligen Awards ist es nun an der Zeit für die erste Retrospektive: „The Singles Collection 2001 – 2011“ versammelt alle Hits vom unkaputtbaren „Clint Eastwood“, das für den Opel Zafira Werbung machen durfte, über „Feel Good Inc.“, „Kids With Guns“, „Stylo“ bis „Doncamatic“. Zwei Remixe von „Clint Eastwood“ und „19-2000“ runden das Ganze ab. Erhältlich als CD und CD+DVD mit allen Videos – dürfte klar sein, welche Ausgabe man den geliebten Hipstern unter den Weihnachtsbaum legt!

Gorillaz: The Singles Collection 2001 – 2011. CD + DVD. EMI/Parlophone. Zur Homepage der Band.

Lady Gaga x Terry RichardsonKeine Provokation

Insbesondere nach Lady Gagas diesjährigem Album “Born This Way” sollte klar geworden sein, dass Stefanie Germanotta ein Gesamtkunstwerk ist, bei dem die Musik eine immer unwichtigere Rolle spielt. Das House of Gaga widmet sich mit voller Kraft der optischen Präsenz seines Superstars und wird dabei von vielen Prominenten unterstützt. Von Terry Richardson zum Beispiel: der 1965 in New York City geborene Fotograf ist enfant terrible und Trendsetter zugleich – kein Wunder, dass er und Gaga sofort erkannten, wie gut ihre Images zueinander passen und sich gegenseitig nützen: welcher Fotograf wäre nicht gern exklusiv an Gagas Seite? Und Lady Gaga behauptet, “schon ihr ganzes Leben davon geträumt zu haben, von Terry Richardson fotografiert zu werden.” 2010 war es dann endlich soweit: Richardson begleitete Gaga einige Monate lang, vom Lollapalooza-Festival im August über die Verleihung der Grammy Awards (Fleischkleid!) bis zur letzten Show der “Monster Ball”-Tour im April 2011. Dabei entstanden über 100.000 Bilder, aus denen Gaga und Richardson knapp 500 für ihren gemeinsamen Fotoband “Lady Gaga x Terry Richardson” auswählten.

Viele Fotos sind im typischen Richardson-Stil gehalten: provokant, roh, (inszeniert) authentisch bis an die Schmerzgrenze: ausgeleuchtete Speckröllchen, verschmiertes Make-up, zerknüllte Bettlaken, Tränen, (Kunst-)Blut und Schweiß. Andererseits ist Lady Gaga der weltweit größte Superstar, der sich nicht von Richardson für ein paar Dollar zu Soft-Porn-Aufnahmen überreden lassen musste: man darf davon ausgehen, dass Gaga zeigt, was sie zeigen will – duchaus eine ganze Menge. In ihren obskuren Kostümierungen (Fleischkleid!!), Auftritten in überdimensionierten Eiern, surrealistischen High-Heels oder mit implantierten künstlichen Knochen wirkt Lady Gaga aber sowieso nicht wie eine von Richardsons schwülen Teenie-Sexphantasien, sondern wie eine skurrile Mischung aus Marilyn Monroe und dem Ding aus einer anderen Welt; außerdem tauchen Gagas Eltern häufig auf den Backstage-Bildern auf und haben Richardson bestimmt auf die Finger gehauen, wenn er der Pantyline ihrer Tochter mal wieder zu nahe kam.

Erwartungsgemäß wird das Buch als “Provokation” und “Tabubruch” beworben, was es natürlich an keiner Stelle ist. Die Fotos sind unbestreitbar super und zeigen eine Popsängerin während einer extrem erfolgreichen Phase. Nicht mehr und nicht weniger.

Lady Gaga x Terry Richardson. Übersetzt von Helmut Dierlamm. Goldmann, gebunden, 360 Seiten, über 450 Fotos. Zur Homepage von Lady Gaga. Zur Homepage von Terry Richardson und zur Verlagshomepage.

Garantiert nicht vDie Welt von VICEernünftig

Terry Richardson ist auch für das 1994 in Montreal gegründete VICE-Magazine stilprägend: von Anfang an erschienen seine Fotos im Heft und definierten den typischen VICE-look mit. VICE, das inzwischen ein weltweit aufgestelltes Medienimperium mit Buchverlag, Platten- und Filmproduktionsfirmen und natürlich der international erscheinenden Zeitschrift ist, machte sich den Tabubruch zum Programm: politisch unkorrekte Berichterstattung, die sich nicht ausschließlich der Wahrheit verpflichtet fühlt, sondern sich als letzte Bastion des investigativen Journalismus versteht.

VICE-Themen sind Drogen, Sex, Porno, Parties, Musik, Mode und Popkultur im Allgemeinen, aber auch Krieg, Folter, Krankheit und Tod. VICE zeigt Amputierte und Junkies, gequälte Tiere und misshandelte Prostituierte, geht mit auf den Strich und auf Trebe und hält bei der Binge-Drinking-Party so lange drauf, bis die Minderjährigen kotzen. VICE huldigt dem Hipster und macht sich über ihn lustig, stochert im Hundekackhaufen und erfindet neue Modetrends. VICE ist geschmacklos, aufdringlich, laut und schrill und niemand weiß, was wirklich „wahr“ ist oder nur eine gute Story. VICE wird nächstes Jahr volljährig, garantiert nicht vernünftig und vor der großen Party gibt’s schon mal ein dickes Buch: „Die Welt von VICE“, vielleicht nicht das ideale Präsent für Tante Lieselotte, der sechsjährige Henry darf es aber gerne in die Finger kriegen.

Vice Books (Hg.): Die Welt von VICE. Übersetzt von Daniel Müller, Benjamin Seibel, Alisa Ehlert, Juliane Liebert. Heyne, 376 Seiten. Zur Homepage von VICE.

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