Plädoyer für die Notwendigkeit von Kunst
– Es ist ein Klischee und Gemeinplatz: (gute) Kunst entsteht nur durch Leiden, ein glücklicher Mensch kann keine/n tiefschürfende/n Text/Bild/Musik hervorbringen. Erfreulicherweise finden sich genügend Gegenbeispiele, aber eben auch eine gigantische Anzahl von Werken, deren UrheberInnen belegt unter Depressionen, Krankheiten, Missbrauch, Liebeskummer, politischer und/oder gesellschaftlicher Ausgrenzung litten/leiden oder schlussendlich das verdammte Leben nicht mehr aushielten und den Freitod wählten.
Schreiben, singen, Musik machen, malen, zeichnen sind häufig Ventile für innere und äußere Qualen – man denke zum Beispiel an die mexikanische Malerin Frida Kahlo, deren surrealistische Gemälde ohne ihre persönliche Geschichte der körperlichen Versehrtheit und der, sagen wir, schwierigen Liebesbeziehung zu Diego Rivera womöglich nie entstanden wären oder anders ausgesehen hätten.
Die amerikanische Musikerin und Autorin Sabrina Chap hat in ihrem Buch „Live Through This“ die selbst erzählten Geschichten von 21 Künstlerinnen zusammengetragen, die irgendwann in ihrem Leben auf irgendeine Weise durch die Hölle gegangen sind und mit Hilfe ihrer Arbeit einen Weg hindurch fanden: „The Way Out Is Through“ heißt nicht nur ein Song der Schmerzensmänner Nine Inch Nails, sondern auch eine Redewendung, die in „Live Through This“ öfter zu lesen ist.
Porno- und überhaupt-Körperkünstlerin („Artist and Ecosexual Sexecologist“ nennt sie sich selbst) Annie Sprinkle beispielsweise erkrankte vor einigen Jahren an Brustkrebs: zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Elizabeth Stevens beschloss sie, Krankheit, Chemotherapie und Operationen zum Bestandteil ihrer Performances zu machen – die Beiden erschienen in Drag im Behandlungszimmer, schrieben ein Theaterstück und dokumentierten jeden Schritt bis zu Annies offizieller Heilung.
Andere Autorinnen im Buch berichten von Missbrauch, erniedrigenden sexuellen Erfahrungen, Drogensucht, Fettleibigkeit, Rassismus – manche Story ist beim Lesen schwer zu ertragen, und doch verspürt man Hoffnung und Freude, weil die KünstlerInnen – u.a. die Illustratorin/Comiczeichnerin Fly, Queer-Aktivistin Daphne Gottlieb, Fotografin Nan Goldin, Ex-Punk-MusikerIn Silas Howard (einst bei Tribe8) – a) am Leben sind und b) ziemlich geile Sachen produzieren. „Live Through This“ wertet nicht und ist auch kein Ratgeber für traurige Menschen. Aber ein flammendes Plädoyer für die Notwendigkeit von Kunst.
Sabrina Chapadjiev (ed.:) Live Through This. On Creativity and Self-Destruction. Forword by Amanda Palmer. Second Editon. Seven Stories Press 2013. Broschur. 288 Seiten.
Die passende musikalische Untermalung:
Dunkel, stark, dramatisch
Um die (Pop-)Welt kann es doch nicht so schlecht bestellt sein – jedenfalls nicht, wenn man die verdiente Aufmerksamkeit zum Maßstab nimmt, die der aus Newcastle stammenden Singer-/Songwriterin Nadine Shah zuteil wird. Am ehesten lässt sich Shah mit Mirel Wagner und Anna Calvi in eine Reihe stellen, denen sie stilistisch, inhaltlich und musikalisch nahe ist. Die Tochter norwegisch-pakistanischer Eltern nennt Maria Callas, Nina Simone, Mariah Carey und Whitney Houston als Vorbilder – und genauso beeindruckend ist auch Nadines variationsreiche Stimme: dunkel, stark, dramatisch.
Shah zieht ihre Inspiration aber auch aus den Werken Frida Kahlos und William Hogarths, was das Bildhafte, Plastische in ihren Texten erklärt. Shahs Hang zur düsteren Moritat lässt auch an Nick Cave und PJ Harvey denken, aber man täte Nadine keinen Gefallen, wenn man ihre Musik nur im Vergleich mit anderen beschriebe. Auf ihrem Album „Love Your Dum And Mad“ schlüpft sie in verschiedene Rollen, zum Beispiel in die der betrogenen Ehefrau, die in „Runaway“ ihrem Gatten hinterherruft, er solle doch zu seiner Hure gehen, sie bliebe schon bei den Kindern, klar. Oder „To Be A Young Man“: offenbar brauchte es eine junge Frau, um die Seelennöte eines jungen Mannes in Worte zu fassen.
Musikalisch ist „Love Your Dum And Mad“ voller interessanter Details, die sich oft erst beim zweiten Hören so richtig entfalten: die eiskalt-metallischen Industrialbeats vom Opener „Aching Bones“, das vordergründig sanfte Piano auf „All I Want“ oder das Kälte und Leere ausstrahlende Arrangement vom „Winter Reigns“. Nadine Shah hat mit modischem Mainstream-Chartpop rnichts gemeinsam und ist trotzdem erfolgreich – das macht froh, auch wenn ihre Songs traurig und verstörend sind.
Nadine Shah: Love Your Dum And Mad. Apollo (Alive). Zur Homepage von Shah.
Intim und cineastisch-theatralisch
In Industrial-Legende JG Thirlwell (Foetus) hat Nika Roza Danilova alias Zola Jesus einen Seelenverwandten gefunden: während ihrer „Conatus“-Welttournee trat Zola Jesus im New Yorker Guggenheim Museum auf, für das sie eine spezielle Performance konzipiert hatte. Ihre Songs sollten nicht im gewohnten Elektroniksound erklingen, sondern von einem Streicherquartett gespielt werden, für das sie zusammen mit Thirlwell die Arrangements erarbeitete. Thirlwell/Foetus‘ Background aus Noise, Industrial und Prä-Gothic passt perfekt zu Zola Jesus‘ zeitgenössischer Interpretation von Gothic und Electro.
Im gemeinsamen Auftritt wurden ihre Songs wie „Fall Back“, „Seekir“ oder „Hikikomori“ quasi bis aufs Gerüst ausgezogen – die dramatische Wirkung der Stücke bleibt in Thirlwells Streicherarrangement trotzdem erhalten, beziehungsweise neu definiert. Die Songs wirken klar und intim, und gleichzeitig cineastisch-theatralisch, wie man es von beiden KünstlerInnen kennt. Das Album „Versions“ unterstreicht die außergewöhnliche Qualität von Zola Jesus‘ Musik, die in jeglichem Gewand fasziniert.
Zola Jesus with JG Thirlwell & Mivos Quartet: Versions. Sacred Bones (Cargo). Zur Homepage der Band, die Band bei Facebook.
So verzweifelt wie druckvoll
Nach den formidablen Platten von Nadine Shah und Zola Jesus fällt Kim Talons Band JAN (auszusprechen: Jo-ann-nah, bestehend aus Talon, Lia Braswell, Davin Givhan und Melinda Holm) ziemlich ab – jedenfalls ab der Mitte des Albums. Der Anfang ist überzeugend; intensiver Post-Grunge-Riot-Grrrl-Punkrock, irgendwo zwischen Babes in Toyland, Violent Femmes und Hole. Die Single „Work For The City“ oder „Some Bite/Some Bitten“ sind so verzweifelt wie druckvoll und man packt sie sofort aufs „Live Through This“-Mixtape, aber irgendwann wird JAN von allen guten/bösen Geistern verlassen und das Album dümpelt recht aussageschwach vor sich hin. Das ist ein bisschen schade – wegen der tollen Stimme von Kim Talon, den guten Lyrics und der anfänglichen attitude – aber ab Track Nummer sechs kann man getrost ausschalten.
Jan: Abandon/Amalgamate. The Company with the Golden Arm (Cargo). Die Band bei Facebook.
Christina Mohr