Geschrieben am 27. April 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Music Is My Boyfriend

Christina Mohr erinnert in dieser Woche an den im letzten Jahr verstorbenen Martin Büsser und präsentiert Platten, die diesem Ausnahmepublizisten vielleicht gefallen hätten…

Niemals beliebig oder belanglos

Wie groß die Lücke ist, die Martin Büssers viel zu früher Krebstod im September 2010 in die deutsche Musik- und Medienlandschaft riss, führt der Reader „Music Is My Boyfriend“ noch einmal schmerzhaft vor Augen. Büsser war Mitbegründer des Ventil Verlags, gab die Zeitschrift testcard heraus, war Musik-, Kunst-, Film- und Literaturkritiker, zeichnete, schrieb Bücher und machte mit der Band Pechsaftha selbst Musik.

Es war gewiss nicht leicht, aus Büssers riesigem Nachlass Texte auszuwählen, die exemplarisch für seine Haltung, seinen Stil, seine Begeisterung für Musik stehen – Martin Büsser legte noch in die winzigste Plattenkritik sein ganzes Herzblut. Dabei war er keineswegs ein Allesgutfinder, noch vor gar nicht langer Zeit beklagte er sich scherzhaft darüber, dass die Zeitschrift Intro ihn als Rezensenten von Bands wie Gallon Drunk und Grinderman abonniert hätte, obwohl er gerade solche Musik und Musikertypen nicht mehr ertragen könne. In letzter Zeit interessierte sich Büsser hauptsächlich für queere Bands und Antifolk, Pop-Modelle, die mit jeglichem Macho-Mucker- und Mackertum nichts zu tun hatten und mit dem Büsser nichts mehr zu tun haben wollte.

Viele wollten daher in der Veröffentlichung seiner Graphic Novel „Der Junge von nebenan“ Büssers Autobiographie sehen, doch dazu äußerte er sich – freundlich lächelnd wie meistens – nicht. Wie Martin Büsser dachte und was ihm wichtig war, konnte man in seinen Texten lesen: „Integrität ist Arbeit“ schrieb Klaus Walter in seinem Nachruf auf Martin. Und Büsser meinte es wirklich ernst mit der Arbeit rund um Pop und Punk, seine Artikel waren niemals beliebig oder belanglos, mit scharfem Blick erkannte er viele Stars-to-come lange bevor andere aufmerksam wurden und entlarvte so manchen Heilsbringer als Mogelpackung. Martin Büsser war integer und unbestechlich, verweigerte sich vorgezeichneten Denkmustern und stieß ungezählte Debatten und Diskussionen an – wobei er sich selbst und die linke Szene nie schonte, sondern ständig hinterfragte.

Sonja Eismann schreibt in ihrem einfühlsamen Vorwort zu „Music Is My Boyfriend“, dass dieses Buch etwas leisten könne, was Martin sich gewünscht hätte, nämlich einen Ort zum Nachschlagen und Weiterdenken zu bieten. In diesem Sinne sei „Music Is My Boyfriend“ allen an aktueller Musik und popkulturellen Strömungen Interessierten zur Lektüre empfohlen.

Martin Büsser: Music Is My Boyfriend. Texte 1990 – 2010. Ventil, Berlin 2011. Broschur, 255 Seiten.

Wir stellen im Folgenden vier Platten vor, die Martin vielleicht gefallen hätten:

Baby Dee: Regifted LightSpäte Karriere

Baby Dee wurde vor fast sechzig Jahren in Cleveland, Ohio als Mann geboren, doch Dee Harris wusste schon sehr früh, dass sie eine Musikerin und kein Musiker werden würde. Die Harfe war ihr bevorzugtes Instrument, daneben leitete sie Kirchenchöre und spielte Orgel. Lange Zeit musizierte und sang Baby Dee weitgehend unbemerkt, bis sich Anfang der Nuller Jahre eine wahre Armada von Underground- und Independent-Künstlern um sie bemühte. Baby Dee spielte auf David Tibets Current 93-Alben, ihr eigenes Debütalbum „Little Window“ erschien 2001 folgerichtig auf Tibets Label Durtro. Wenig später interessierten sich Antony Hegarty, Will Oldham alias Bonnie „Prince“ Billy oder Marc Almond für Baby Dee, die mit ihrem Harfenspiel und charakteristischem Gesang viele Platten anderer Leute bereicherte. Vor drei Jahren bekam sie für ihr Album „Safe Inside The Day“ endlich die verdiente Aufmerksamkeit, Babys so unpoppige wie herzzerreißende Mischung aus Klassik, Vaudeville und Cabaret-Musik fand auch hierzulande viele Fans.

„Regifted Light“ ist ein noch eindeutigeres Klassikalbum, Baby Dee und Producer Andrew W.K. verzichteten fast vollständig auf Instrumente wie Gitarren oder Synthesizer, die die Stücke in Richtung Pop rücken könnten. Die Harfe hat Baby Dee allerdings zuhause gelassen, Piano, Glockenspiel und Blasinstrumente wie Tuba und Trompete bestimmen den Klang von „Regifted Light“ – und natürlich Babys sakral-theatralischer Gesang, der manches Lied zur bewussten Persiflage macht. Musical und Kinderkarussell, Christmas Carols und Dreigroschenoper – „Regifted Light“ ist eine Platte von großem Ernst und ebenso großer Heiterkeit. Die späte Karriere von Baby Dee sollte uns fröhlich stimmen.

Baby Dee: Regifted Light. Drag City.
Die Homepage der Künstlerin und Baby Dee auf Myspace.

Men: Talk About BodyEs gibt viel zu tun

„We want some options, there is a way / Why don´t you adopt, borrow someone´s cock / call up the bank“ – diese so pragmatische wie progressive Forderung nach Babies für alle, die welche wollen, auch wenn sie kein Interesse an der scheinbar üblichen Mann-Frau-Paarbeziehung haben, stammt von MEN, dem queeren Trio um JD Samson (Le Tigre).

MENs Musik und Texte sind ein freundlicher call to arms für Schwule, Lesben, Transgender und alle anderen, die sich jemals wegen irgendeiner Abweichung von der Norm ausgegrenzt fühlten – wobei „Talk About Body“ keine Opfer-Platte ist, im Gegenteil. MEN sind höflich, aber bestimmt in ihrer Haltung. Man ist inzwischen ja schon soweit, dass Queerness aller Art als cool und schick gilt, sofern diese Queerness hip und vorzeigbar ist (siehe Lady Gagas aktuelle Performances). Aber immer noch werden LGBTs (Lesbians, Gays, Bisexual, Transgender) überall auf dieser Welt gedemütigt, und deshalb gibt es noch jede Menge zu tun. Auch für MEN: „we built this world and we are asking your best / group group work and gay power / what´s the path to choose now is the hour“, proklamiert JD im Hit „Who Am I To Feel So Free“, der unlängst in einer neuen Version mit Antony Hegarty erschien.

MEN packen ihre genderpolitischen Slogans in supertanzbare Musik, die in eine Tüte mit Gossip, CSS, Le Tigre, !!!, Tom Tom Club und LCD Soundsystem gepackt werden kann: knackige Discobeats mit Funk-Bässen und Riot Grrrl-Punk-Attitüde. Nicht neu, aber toll. Und wer wie MEN einen ganzen Song über die schottische Wimp-Band Orange Juice macht, dem gehören sowieso alle Sympathien.

Men: Talk About Body. I Am Sound (Sony).
Die Website des Trios. Men auf Myspace und bei Facebook.

Station 17: FieberGlück gehabt

Über Station 17 hat Martin Büsser mehrfach geschrieben und versäumte nie, darauf hinzuweisen, dass man bei dieser Band kaum darum herum käme, Kategorien wie „krank“ oder „gesund“ zu benutzen und wie falsch das ist. Station 17 wurde vor 23 Jahren gegründet, hat acht Alben veröffentlicht und besteht zurzeit aus zwölf Musikern. So weit, so faktentreu. Was Station 17 von einer „normalen“ Band unterscheidet, ist der Umstand, dass Station 17 aus eine Hamburger Wohngruppenprojekt hervorging, bei dem Menschen mit und ohne Behinderung zusammen musizierten. Seit dem Debütalbum von 1991 hat sich Station 17 personell und stilistisch häufig verändert, viele berühmte Leute wie Guildo Horn, Barbara Morgenstern, Fettes Brot haben mit der Band zusammen gespielt. Das neue Album „Fieber“ kommt ohne Celebrities aus, es genügt sich ganz und gar selbst. Niemand verstellt sich hier, „Fieber“ ist ein Improvisers Pool ohne Mackerallüren. „Fieber“ wurde ganz hippieesk auf einem Hof im Wendland aufgenommen, die Musiker lebten und arbeiteten dort wie einst die Krautrock-Kommunarden Amon Düül und Kraan. Apropos Krautrock: die elf neuen Stücke klingen wie eine zeitgemäße Hommage an deutsche 70er-Jahre-Bands wie Can, Neu! oder eben Kraan. Festgefügte Songstrukturen interessieren hier niemanden,

„Fieber“ ist ein groovender Kraut-Jazz-Trance-Fluss mit repetitiven Schleifen und Patterns, der bei dem superben „Uh-Uh-Uh“ zum New Yorker Funk á la ESG und Konk führt, bei „Xalapa“ oder „Zuckermelone“ Dadaismus und pure Emotionalität zelebriert. Auf dem Hof im Wendland standen jede Menge Instrumente herum, die von Station 17 begeistert ausprobiert wurden: Marimbas zum Beispiel, aber auch das Vogelgezwitscher von draußen fand seinen Weg auf „Fieber“. Tobias Levin hat die Stücke transparent und leicht abgemischt, „Fieber“ atmet, auch wenn sich das jetzt erst recht hippiemäßig anhört. Das Album ist weitgehend instrumental, Texte werden assoziativ dazwischen gesprochen und haben keinerlei Strophe-und-Refrain-Charakter. „Fieber“ ist eine Momentaufnahme, die in dieser Form nicht wiederholt werden kann und wird – einer der Musiker sagt: „Mit diesem Album haben wir ganz schön Glück gehabt.“ Wir auch.

Station 17: Fieber. 17rec (Cargo).
Die Band auf Myspace sowie bei Facebook. DieWebsite von Station 17..

Cut Copy: ZonoscopeTanzexzesse

Der australischen Band Cut Copy kann man nicht vorwerfen, dass sie besonders karriereorientiert vorginge: im zehnten Jahr ihres Bestehens erscheint mit „Zonoscope“ erst ihr drittes Album. Der Erfolg der Vorgängerplatte „In Ghost Colours“ kam wohl eher überraschend, mit Billboard-Charts-Platzierungen hatten Cut Copy, die sich gern in Animal Collective-ähnlichem Masken- und Tierfiguren-Ambiente präsentieren, gewiss nicht gerechnet. „Zonoscope“ passt vom Sound zwar perfekt ins noch immer grassierende Achtziger-Revival, doch die Mischung aus bis zu fünfzehn Minuten langen Disco-House-Tracks und angefolktem Sonnenschein-Pop à la Beach Boys und Fleetwood Mac während ihrer „Rumours“-Phase lässt sich in keine Schublade stecken – Cut Copy sind auf flauschige Weise widerspenstig.

„Zonoscope“ ist eine Platte, mit der man sich von Anfang an rundum wohl fühlt (wenn man, wie gesagt, auf strenge Kategorien keinen Wert legt), der Einstieg mit „Take Me Over“ ist anheimelnd, eingängig, locker und synthiepoppig. Songs wie „Need You Now“ und „Where I´m Going“ sind vom Elektropop der Achtziger inspiriert, Namen wie Heaven 17 kommen einem in den Sinn, Musik also, für die es sich durchaus lohnt, tief im Retro-Koffer zu wühlen. Das trippige „Sun God“ und „Blink And You´ll Miss A Revolution“ lassen die untergegangene Paradise Garage wieder auferstehen – saftiger Prä-House und Disco laden zu schier endlosen Tanzexzessen. Produziert hat übrigens Ben Allen, der auch schon Animal Collective betreute – die sympathische Unentschiedenheit von Cut Copy in punkto Stil lag in berufenen Händen…

Cut Copy: Zonoscope. Modular (Rough Trade).
Die Homepage der Band. Cut Copy auf Myspace sowie bei Facebook.

Christina Mohr

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