Geschrieben am 27. Februar 2013 von für Musikmag

Mohr Music: Neo-Soul & Retro allgemein

20130224_232759Wochenrückblick

– In den vergangenen Tagen war ich von der Musik junger Frauen umgeben, die sich allesamt im Jahrzehnt geirrt hatten – so kam es mir jedenfalls vor, nachdem ich mich durch die neuen Platten von Leslie Clio, Alice Russell, Lady, Louise Gold & The Quarz Orchestra, Trixie Whitley und Sofia Härdig gehört hatte. Das soll keine Wertung sein, aber es fällt in der Ballung doch auf, wie stark sich jugendliche Künstlerinnen (und natürlich auch Künstler, aber um die geht’s hier erstmal nicht) an der Vergangenheit orientieren. Da wäre zunächst der seit einigen Jahren enorm beliebte Neo-Soul-Sektor, höchst erfolgreich bespielt von der schmerzlich vermissten Amy Winehouse, von Adele, Duffy, Estelle und vielen anderen – auch deutschen Sängerinnen.

Leslie Clio_Gladys Bitte schmachten Sie jetzt:

Aus Hamburg kommt die 25-jährige Leslie Clio, die ihr von Tomte-Bassist Nikolai Potthoff produziertes erstes Album „Gladys“ nach der legendären „Kaiserin des Soul“ Gladys Knight benannte, die 1967 mit ihrer Band The Pips die Originalversion von „I Heard It Through The Grapevine“ aufnahm. Clio hat zwar eine tolle, soulige Stimme, ihre Songs sind aber von der Tiefe eines Knight-Stücks weit entfernt.

Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass Leslie Clio eine deutsche Mischung aus Duffy und Adele werden soll: die ersten Songs des Albums sind eher flockig-poppig im leichten Soul-Gewande („I Couldn´t Care Less“), ab der Mitte werden die Stücke getragener, melancholischer, aber nicht unbedingt besser.

Das Meiste wirkt kalkuliert und auf puren Effekt hin arrangiert – schade. Frau Clio hat Potential und man wünscht ihr knackige, gute Songs. Ein Stilwechsel birgt allerdings auch seine Tücken: Duffys Pop-Experiment „Endlessly“ ging vor drei Jahren sang- und klanglos unter.

Leslie Clio: Gladys. (Vertigo/Universal). Zur Homepage.

Alice Russell_To DustSoulsängerin der Extraklasse

Die Engländerin Alice Russell ist gute zehn Jahre älter als Leslie Clio, was ihr zumindest in punkto Erfahrung echte Vorteile verschafft. Russell sang schon mit Roy Ayers, Mr Scruff, Quantic und Nostalgia 77, TM Juke und eigentlich allen Tru-Thoughts-Artists; sie darf David Byrne, Daddy G und Gilles Paterson zu ihren größten Fans zählen und trat beim renommierten Montreal Jazz Festival auf.

„To Dust“ ist ihr fünftes Studioalbum und präsentiert Russell als versierte, emotionale Soulsängerin der Extraklasse. Die gemeinsam mit Alex Cowan komponierten Stücke sind der Vergangenheit verpflichtet, denken aber auch moderne Sounds wie Dubstep mit. Fürs Formatradio geeignet, aber nicht zu mainstreamig – toll.

Alice Russell: To Dust. (Differ-Ant/Groove Attack). Zur Homepage.

 Lady_Lady2Das nächste große Ding

Das britisch-amerikanische Duo Lady wird das große Ding dieses Frühjahrs, das verspreche ich hiermit: Terri Walker und Nicole Wray lieben den klassischen Sixties-Soul-Sound, wie er von den Häusern Stax, Atlantic und natürlich Motown produziert wurde.

Die beiden Ladies stehen aber auch auf LaBelles „Lady Marmalade“ und neuzeitlichen R’n’B, so dass ihr Debütalbum eine zwar vorwiegend nostalgische, aber im Grunde zeitlose Revue und Hommage an die von schwarzen Frauen gesungenen Soulmusic ist. Stücke wie „If You Wanna Be My Man“, „Get Ready“ oder „Habit“ sind instant classics, bestens für den Club geeignet und für eine sündige Nacht auf seidigen Laken.

Die Single „Money“ ist mit dem doch recht vorhersehbaren Text (Geld ist nicht alles, frau braucht außerdem ihr eigenes) gar nicht mal das beste Stück des Albums, trotzdem gut.

Lady. (Truth & Soul/Groove Attack) Zur Artistseite des Labels.

Loise Gold_Debut2Nostalgisches Flair

Die in Potsdam geborene Sängerin und Songwriterin Louise Gold ist eine alte (sorry) Häsin im Musikgeschäft: sie arbeitete schon mit FM Einheit zusammen, war Teil des Trip-Hop-Duos Recorder und von The Rear Window.

Mit fünf Berliner Musikern gründete sie 2008 das Quarz Orchestra (Namensgeber Hans Quarz spielt Posaune und arrangiert die Stücke), mit dem sie seitdem regelmäßig in Deutschland und auch international auftritt. Gold und das Orchester spielen ausschließlich auf 1950er- und ’60er-Jahre-Equipment und haben sich dem klassischen Salon- und BigBand-Jazz verschrieben.

Ihr Debütalbum „Debut“ umweht ein nostalgisches Flair und wird all jenen gefallen, die sich fürs abendliche Ausgehen gern in schwarze Schale werfen. Frau Gold hat eine fantastische, dunkel-rauchige Stimme und Konzerte des Orchesters sind bestimmt ein Ereignis.

Louise Gold & The Quarz Orchestra: Debut (skycap) Zur Homepage.

Trixie Whitley_Fourth Corner No more Soul, but retro anyway:

Trixie Whitley ist zwar erst 25 Jahre alt, ihre Stimme und ihre Musik klingen aber, als wäre die amerikanische Sängerin und Gitarristin mindestens doppelt so alt. Das mag daran liegen, dass die Tochter des 2005 verstorbenen Gitarristen Chris Whitley hauptsächlich mit wesentlich älteren MusikerInnen zusammenarbeitet: sie ist Leadsängerin in Daniel Lanois‘ Band Black Dub, sie kooperierte außerdem mit Meshell Ndegeocello, Robert Plant, Marianne Faithfull, Joe Henry und Marc Ribot.

Ihr Solodebüt „Fourth Corner“* verbindet Blues, Jazz, Soul, Folk und Americana und ist voller starker Bilder und gewichtiger Lyrics, die auch von Tom Waits stammen könnten: „I´ve always been a town dog, from these concrete streets / I gotta go. Gotta find myself home, Gonna walk through the border / of the Fourth Corner“.

* symbolischer Ort in der chinesischen Mythologie: der Ort, an dem vier Flüsse zu einem großen Strom zusammentreffen. Versinnbildlicht die Jahreszeiten und den Zyklus des Lebens.

Trixie Whitley: Fourth Corner (Unday/Rough Trade) Zur Homepage.

Sofia Härdig_The Norm Of...Eine echte Entdeckung

Die Schwedin Sofia Härdig ist großer Suicide-Fan und sagt über sich selbst, „… in general I like a lot of music from the past.“ Das hört man auf ihrem fünften Album „The Norm of the Locked Room“ deutlich. Es liegt mir fern, mit Superlativen um mich zu werfen, aber Sofia Härdig klingt, als hätten sich Patti Smith, Nick Cave und die Violent Femmes ca. 1982 in einer verfallenen Blockhütte getroffen, um diese acht Songs hier aufzunehmen.

Härdig hat in ihrem Leben schon vieles ausprobiert, lebte einige Jahre in New York City und trat in legendären Clubs wie dem CBGB´s und The Kitchen auf. Musikalisch experimentierte sie mit Elektronik, Rock und Synthiepop und scheint mit ihrem jetzigen Oevre bei sich selbst angekommen zu sein – auch wenn „The Norm…“ so wirkt, als sei die Platte dreißig Jahre alt. Ist aber egal, denn die Songs sind gut und Härdig als Sängerin eine echte Entdeckung.

Sofia Härdig: The Norm of the Locked Room (Solaris Empire) Zur Homepage und zur Webseite des Labels.

Was ist „zeitgemäß“?

Was aber sagt es uns, dass sich all die jungen Frauen in der Vergangenheit so wohl fühlen? Ist die allgegenwärtige, von Simon Reynolds diagnostizierte, aber auch nicht wirklich erklärte Retromanie ein Zeichen kreativen Stillstands oder schlichtes Auf-Nummer-Sicher-Gehen? Fällt der Schritt an die Öffentlichkeit/ins Rampenlicht leichter, wenn man bewährte Pfade betritt? Ist das Wiederbeleben alter Klänge und Stile eine Form des Schauspielerns, mit dem man sich und sein Talent erstmal ausprobiert, Gisela Eisner_Versuche, die Wirklichkeit...bevor man sich mit zeitgemäßen Sounds hervorwagt?

Was ist überhaupt „zeitgemäß“ oder modern und ist diese Frage nicht ganz egal, so lange die Musik gut ist? Und welche Rolle spielen die Hörer- und KäuferInnen? Man könnte lange über diese Fragen sinnieren, die ich jetzt erstmal unbeantwortet in die Runde werfe und empfehle zum Sinnieren den Genuss der oben genannten Platten.

Gelesen habe ich in der letzten Woche übrigens die im Verbrecher Verlag neu aufgelegten Werke der großartig-grotesken Stilistin Gisela Elsner – ach, die ist schon lange tot? Na sowas, das fällt beim Lesen gar nicht auf…

 Gisela Elsner: Versuche, die Wirklichkeit zu bewältigen: Gesammelte Erzählungen, Band 1. Verbrecher Verlag 2013. 266 Seiten. 15,00 Euro.
Gisela Elsner: Zerreißproben: Gesammelte Erzählungen, Band 2.Verbrecher Verlag 2013. 222 Seiten. 15,00 Euro.

Christina Mohr

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