Rocko Schamoni & Le Orchestre Mirage: Die Vergessenen
–Ihr erinnert euch: Vor einigen Jahren verkündete Rocko Schamoni während seiner (vorläufig) letzten Tournee, dass er nicht mehr als Musiker in Erscheinung treten wolle, sondern sich künftig um andere Projekte wie Bücher, Filme, etc. kümmern wolle. Vielleicht war diese (vorläufige) Entscheidung von der ernüchternden Erfahrung gespeist, dass King Rocko mit Lesungen aus „Dorfpunks“, „Tag der geschlossenen Tür“ und seinen anderen Büchern ungleich erfolgreicher war als mit seinen Platten und Konzerten – sei’s drum. Dann kamen Fraktus und damit wahrscheinlich auch wieder dieser Bock auf Musik.
Schamoni selbst sagt, dass er während unzähliger auf der Autobahn zugebrachten Stunden eine große Abscheu gegen das deutsche Formatradio entwickelt habe – klar, das sagen ja fast alle Leute, zucken mit den Schultern, schalten trotzdem ein oder lassen den zuhause bestückten MP3-Player laufen. Nicht so Rocko Schamoni: Er kanalisiert seinen Ekel in dem wundervollen Projekt „Die Vergessenen“, das er bereits im vergangenen Sommer mit seinem Orchestre Mirage und Co-Sängerin Rica Blunck auf ausgewählten Bühnen vorstellte. Mit Streichern, Bläsern, feinen Anzügen und allem Pipapo. Eine Platte war nur eine Frage der Zeit, und das abgelegte Gelübde zum Glück dann doch nur vorläufig.
„Die Vergessenen“ sind für Rocko Schamoni Songperlen deutschsprachiger Provenienz, die von den Radiosendern nicht oder erst ab 2.00 morgens gespielt werden. Er und das Orchestre packen diese Stücke in neue, ungewöhnliche Klanggewänder: So bekommt „Ist das wieder so ’ne Phase“ von den Lassie Singers einen unerwarteten Touch ins Soulige, der Indie-Hit „Das Zelt“ vom Jeans Team wird ins Big-Band-Universum gepusht, die Lieder von F.S.K., Guz, Ton Steine Scherben, Manfred Krug und Saal 2 werden würdevoll und mit Schamonis ureigener Mischung aus Humor und Melancholie liebevoll gewendet, entstehen als Chanson oder Swingtrack neu. Bitte beachten: „Die Vergessenen“ sind kein Spaßprojekt, kein Schlagermove, kein Fahrstuhl-Easy-Listening. Es ist Rocko Schamonis Herzensangelegenheit, „Die Vergessenen“ zu würdigen, das spürt man in jedem Ton dieser Platte, die es verdient, zu jeder Tages- und Nachtzeit gespielt zu werden.
Rocko Schamoni & Le Orchestre Mirage: Die Vergessenen (Staatsakt). Mehr hier beim NDR.
Balbina: Über das Grübeln
Die Berlinerin Balbina eine „Vergessene“ zu nennen, wäre unfreundlich, denn sie fängt ja gerade erst richtig an. Aber es ist zu erwarten, dass auch ihre Musik nicht im Vormittagsprogramm des Formatradiosenders laufen wird. Vor ein paar Jahren nannte sie sich Bina, gastsang auf deutschsprachigen Hip-Hop-Alben und scharrte mit den Hufen – und vor kurzem war es dann soweit, ihr Album mit dem schönen Titel „Über das Grübeln“ erschien und präsentiert eine echte Ausnahmekünstlerin. Wer sich schon immer fragte, was ihn oder sie an deutschem R’n’B, Soul o. ä. störte, wird es angesichts Balbinas Album wie Schuppen aus den Haaren fallen: Die Texte sind es, die chartkompatible Musik aus Deutschland oftmals zur Fremdscham-Erfahrung machen, Sarah Connors „Muttersprache“ ist da nur ein trauriger Höhe- bzw. Tiefpunkt.
Balbinas Texte sind anders. Sehr anders. In der Schule wurde sie ausgelacht, weil ihre Aufsätze zu phantasievoll oder schlicht zu gut waren, um von den KlassenkameradInnen und dem Lehrpersonal verstanden zu werden. Zuhause übte sie Singen, sie wollte so klingen wie Whitney Houston, was ihr nicht ganz gelang, denn Balbinas Stimme ist viel tiefer – aber genauso soulful. Ihre beiden großen Talente hielt sie eine ganze Weile versteckt, bis sie langsam, aber sicher in der Berliner Hip-Hopper-Szene Fuß fasste, Kontakte knüpfte, singen durfte.
Und eigene Texte schreiben, wie diesen hier: „Schneller ist man immer besser als schnell / denn wenn man sich beeilt dann bleibt man nicht allein zurück / dann bleib ich nicht allein zurück / um die Wette hetz’n / Coffeintabletten mit Dr. Pepper exen / und als erster Mensch sich selbst überholen / das ist dann schon so was von überholt / zügig macht müde…“ („Langsam Langsamer“). In anderen Stücken wie „Blumentopf“, „Kuckuck“ oder „Das IST, die Zeit ist ein Egoist“ verschiebt Balbina Wahrnehmungsgrenzen, da kriegen, nein, da haben die Dinge ein Eigenleben: „durch die Gardine fällt das Licht gerade so / ein in die Wohnung, dass auf der Tapete Sterne tanzen“.
Aus dem Hip-Hop kommt ihre Methode, lange Texte in kurzer Musik unterzubringen, dem Song durch den Text Struktur zu geben, weshalb „Über das Grübeln“ schon recht R’n’B-lastig ist – aber die Musik, die Beats halten sich dezent im Hintergrund.
Balbina hat so viel zu erzählen, zu beschreiben, zu verrätseln, zu fragen und nicht aufzulösen, dass allzu deutlich definierte Musik fehl am Platze wäre. „Über das Grübeln“ ist das Tagebuch des seltsamen Mädchens, das du schon immer total faszinierend fandst, dich aber nie getraut hättest, anzusprechen. Zum Glück kann man ihr jetzt zuhören.
Balbina: Über das Grübeln. Four Music (Sony).