Frau Mohr hegt eine grundsätzliche Sympathie für nachträglich gekaufte Themen-Sampler, denn das Leben hat einen vielleicht ab und zu davon abgelenkt, sich um eine komplette, untadelige Buch- und Plattensammlung zu kümmern – daher in dieser Woche ein weitere Sampler-Kolumne…
Über Hohlräume
Mein Bekannter N. liest gerade ein Taschenbuch (Kurzgeschichten von Graham Greene), das sich vor zwanzig Jahren in meinem Besitz befunden haben muss, zumindest legt ein von meiner Hand hineingekritzeltes Kaufdatum diese Vermutung nahe. Ich erinnere mich weder daran, dieses Buch erworben zu haben, geschweige denn, ob ich es gelesen habe oder wie es in die Hände des Freundes gelangt sein könnte (WG-Party, Umzug, Sperrmüll, Flohmarkt?). Und was geschah überhaupt seit 1991? Rätselhaft und spannend…. Dass ich Graham Greene nicht vermisste, liegt daran, dass ich der akribischen Sortierung und Lagerhaltung skeptisch gegenüber stehe (siehe auch hier). Man kann mich gerne auch „schlampig“ oder „nachlässig“ nennen, damit habe ich kein Problem.
Schnappatmung und Klaustrophobie bekomme ich dagegen, wenn ich in Wohnungen zu Gast bin, deren Wände von perfekt bestückten, kompletten Bücher- oder Platten-/CD-Sammlungen gerahmt sind. Lückenlose Ordnung erdrückt und langweilt mich. Interessanter als die zehnbändige, zumeist unberührte, sprich ungelesene Goethe-Ausgabe ist doch der zerfledderte Reclam-Werther mit all den Notizen und Kritzeleien, den Herzchen, Totenköpfen und Bandlogos. Du kennst das Buch und das Buch weiß alles über dich, zumindest, was du im Sommer 1987 gedacht und gefühlt hast.
Für das Platten-/CD-Regal gilt dasselbe: die Lücke, die Leerstelle erzählt mehr über dich als das Vollständige: warum fehlt in deiner Cure-Kollektion ausgerechnet „The Head on the Door“? Was war da los mit dir, in deinem Leben? Hattest du Liebeskummer oder kein Geld, warst du Au Pair in einem Land ohne Plattenläden oder warst du zeitweise zur Simply Red-Fraktion übergelaufen, zu der heute niemand mehr gehören will?
Frau Mohr hegt wegen dieser und anderer Erklärungsversuche eine grundsätzliche Sympathie für nachträglich gekaufte Themen-Sampler, denn das Leben hat einen vielleicht ab und zu davon abgelenkt, sich um eine komplette, untadelige Buch- und Plattensammlung zu kümmern. Und eigentlich will sie nur von der Tatsache ablenken, dass bei Mohr Music SCHON WIEDER neue Sampler vorgestellt werden:
Teaser für Nachgeborene
Zwingende Notwendigkeit für diese Compilation besteht nicht wirklich: schon „Still“, das Joy Division-Doppelalbum, das nach Ian Curtis’ Freitod erschien, war eine resümierende Bestandsaufnahme; die Menge an New Order-Best- und Rest of-Samplern ist kaum zu überschauen.
Eine gemeinsame Retrospektive von Joy Divison und New Order wäre allerdings dennoch reizvoll, schließlich sind nur wenige Bands so schicksalhaft und organisch durch Tod und Wiederauferstehung miteinander verbunden. „Total“ aus dem Hause Warner löst die Aufgabe, Geschichte, Werk und Entwicklung von JD/NO darzustellen, leider nur unzureichend. Zum einen weckt die Gewichtung – fünfeinhalb Songs von JD gegenüber zwölfeinhalb von NO – den Eindruck, als seien Joy Division nicht etwa die wichtigste und stilbildendste Postpunk-Band gewesen, sondern nur ein kleiner Pups vor der Gründung von New Order. Zum anderen ist die Songauswahl so mut- und ambitionslos, dass von „Total“ keine neuen Schlaglichter gesetzt werden können. Alles sattsam bekannt und in gut ausgestatteten Haushalten mehrfach vorhanden: Erste Single von Joy Division („Transmission“, 1979), größter Hit von Joy Division („Love Will Tear Us Apart“), Übergangssong „Ceremony“ (noch von Ian Curtis komponiert, Debütsingle von New Order, 1981), Durchbruchhit New Order („Blue Monday“, 1983), größter Hit von New Order („True Faith“, 1987), New Orders WM-Song („World in Motion“, 1990), jüngere Tracks wie „Crystal“ von 2001 und ein unveröffentlichter neuer Song („Hellbent“).
Natürlich kriegt man immer noch Gänsehaut bei Joy Divisions „Isolation“ oder dem in David Quanticks Linernotes als „Siberian Phil Spector“ beschriebenen „Atmosphere“, weint bittere Tränen bei „Love Will Tear Us Apart“ und bewegt sich bei „Blue Monday“ und „Bizarre Love Triangle“ wie ferngesteuert zur Tanzfläche. Ebenso lässt sich anhand der chronologischen Song-Reihenfolge nachvollziehen, wie sich New Order vom sagenhaft deprimierenden JD-Sound emanzipierten und zur optimistischer denkenden Elektro-Discoband wurden. Den Titel „Total“ verdient diese CD jedoch mitnichten. Die Compilation dient höchstens als Teaser für Nachgeborene, sich doch eine Sammlung anzulegen, in der zumindest die Alben von Joy Division und New Order enthalten sind.
Okay, das Cover von Factory-Hausgrafiker Peter Saville ist wie gewohnt sehr schick.
Joy Division/New Order: Total. Rhino (Warner).
Unbeteiligt unter Haarzotteln
Was heißt es, wenn im Baumarkt The Who´s „My Generation“ als Hintergrundbeschallung läuft? Genau: das revolutionäre Potential von Rock, Pop resp. jeglicher „Gegenkultur“ (whatever that means) schrumpft im Lauf der Jahrzehnte auf Knallerbsengröße. Während man die Zeile „Hope I´ll die before I get old“ mitsingt, überlegt man, welche Fliesenfarbe am besten zur neuen Klobrille passt – wirklich nicht sehr umstürzlerisch.
Der Begriff der „Generation“ (bitte englisch aussprechen) ist in der Popkultur seit jeher stark mit Bedeutung aufgeladen: Generation X, Y, Golf, @, Prekär, Praktikum oder Planlos – Schubladen sind schnell geöffnet und zufällig anwesende Jugendliche, Autofahrer oder für ohne Geld arbeitende Menschen rasch hineingesteckt. Auch wenn der Albumtitel „Generation Underground“ so abgeschmackt klingt wie vieles, das sich die Plattenindustrie ausdenkt, um ihre Produkte zu verkaufen, weiß man doch gleich, wer damit gemeint ist: wir. Mit „wir“ meine ich die 35+++-Generation, die in den frühen und mittleren achtziger Jahren niemals in eine „Disco“ gegangen wäre, sondern an den Wochenenden Läden aufsuchte, die „Kreuz“, „Ausweg“, „Batschkapp“ oder „Blue Shell“ hießen und keinesfalls als Discos bezeichnet wurden.
Wenngleich dort auch getanzt wurde: schwarzgekleidete Prä-Goths und Post-Post-Punks scharrten mit den Füßen auf der Stelle herum und vollführten dazu mit den Armen schamanisch-expressives Beschwörungs-Vogueing. Aus den Boxen erklangen Dead Can Dance, The Cure, Sisters of Mercy, Siouxsie and the Banshees, New Model Army, Postpunk, Elektrowave und zum Schluss gern ein „witziger“ Rausschmeißer wie das „Kufsteinlied“ oder irgendwas von Heino. Ihr erinnert euch. Wenn nicht, hilft bereits erwähntes Doppelalbum „Generation Underground“, das ganz auf kollektive Sentimentalität setzt. Viele werden ihre Sammlungen mit dieser CD ergänzen, obwohl sie alle Platten von Killing Joke und Red Lorry Yellow Lorry besitzen. Die Sicherheitsnadel auf dem Cover führt zwar in die Irre, weil dieses Relikt aus den 1970er-Jahren im coolen Eighties-Universum völlig out war, NIEMAND trug noch eine Nadel in der Backe oder sonstwo.
Die Songauswahl triggert dagegen gewaltig an den Erinnerungsclustern: von New Orders (ha!) „Ceremony“ über „Making Plans for Nigel“ (XTC), „Trip to the Moon“ von Alien Sex Fiend, „Mexican Radio“ von Wall of Voodoo bis zu „Sleeper in Metropolis“, dem Smashhit von Anne Clark, der Melissa Etheridge der Indie-Szene, könnte das Album die eins-zu-eins übernommene Playlist des „Kreuz“ in Fulda aus dem Jahre 1987 sein. Dieser Vergleich ist gar nicht so weit hergeholt, zusammengestellt wurde das Album nämlich von Rolf Kistenich (Betreiber des Blue Shell in Köln) und Thomas Elbern (WDR-Radiomoderator, Mitglied von Pink Turns Blue und Escape With Romeo). Leuten also, die in den Achtzigern „dabei waren“. Die Songs an sich bilden keine Generation: von Iggy Pop´s „The Passenger“ zu Yellos „Bostich“ ist es ein weiter, wenn nicht gar unauffindbarer Weg; auch zeitlich wird der Bogen weit gespannt: „Suedehead“ von Morrissey stammt aus dem Jahr 1988, „The Passenger“ von 1977. Die „Generation Underground“ formierte sich aus den Playlists der Club-DJs, die mit mal mehr, mal weniger Geschick zeigten, dass man auch zu Punk-, Wave- oder sonst irgendwie abseitiger, jedenfalls nicht mainstreamiger Musik tanzen kann.
Elektro-Acts wie DAF und Liaisions Dangereuses sind eindeutiger auf Körperlichkeit ausgerichtet, auch zu Dead Kennedys‚ „Holiday in Cambodia“ lassen sich wunderbar die Unbilden der Arbeitswoche wegpoguen. „Leben heißt Leben“ von Laibach oder Wire´s „I Am the Fly“ hingegen erfordern einfallsreiche TänzerInnen. Aber musste man gar nicht unbedingt tanzen im Blue Shell oder Ausweg: cool herumstehen und rauchen, viel rauchen (das durfte man damals noch DRINNEN) war absolut ok. Vielleicht eint das die „Generation Underground“: Hauptsache, kein Popper oder Landei sein, koste es, was es wolle. Styling war das eine, Abgrenzung durch Musik das andere: während die Landeier in ihre Landeier-Disco gingen und zu Dan Harrow und Sandra schwoften, verdrückten sich die „Waver“ in weit entfernte Läden und freuten sich wie das Bienenmädchen im Video zu Blind Melon´s „No Rain“, wenn sie Gleichgesinnte dort entdeckten.
Die Freude durfte man aus Coolnessgründen zwar nicht zeigen, weshalb man unter schwarzgefärbten Haarzotteln betont unbeteiligt in die Runde blinzelte. Die Coolness bröckelte aber spätestens, wenn das Intro von „Faith Healer“ erklang, oder der trockene Beat von The Cures „10.15 (on a Saturday Night)“ – Prä-Goth oder modisch indifferente Kräutersocke: beim Tanzen wurde man angenehm tolerant und es war wurst, ob einem jemand mit Doc Marten´s oder Entenschuhen auf die Füße trat.
Various: Generation Underground. Doppelalbum. EMI.
Nachhilfeunterricht
Leute zu finden, die in ihrer Plattensammlung alle Veröffentlichungen von The Android Sisters, Human Flesh, Alesia Cosmos, Los Microwaves oder BeNe GeSSeRiT versammelt haben, dürfte, ohne das beweisen zu können, recht schwierig sein. Das Pariser Indie-Label Le Son du Maquis, auf dem auch James Chance und Lydia Lunch erscheinen, leistet mit seiner dreiteiligen und nunmehr abgeschlossenen Sampler-Reihe «A Man And A Machine» unschätzbaren Nachhilfeunterricht in punkto elektronischer Musik. Daniel Miller (Mute) erwähnte unlängst in einem Interview, dass der Synthesizer den wahren Punk ermöglichte: schließlich musste auch ein Sex Pistol auf der Gitarre wenigstens einen Griff, einen Akkord spielen können.
Auf dem Synthesizer musste man gar nichts können, ein Tastendruck und fertig ist der Track. Mag sein, dass deswegen Postpunk musikalisch so viel interessanter war als der doch sehr handgestrickte Punkrock, unbestritten ist, dass vom Punk kommende Acts wie Throbbing Gristle, The Human League, OMD, Chris & Cosey, Cabaret Voltaire, Suicide, Thomas Leer und auch ältere Kraut-Rocker wie Moebius & Plank den Synthesizer sehr früh entdeckten und spätere elektronische Musikgenres wie EBM, Techno und andere vorbereiteten oder vorwegnahmen. „A Man And A Machine III“ weist personelle Überschneidungen zu „Generation Underground“ auf (Wire, Cabaret Voltaire, Suicide), ist aber nur bedingt zum Tanzen geeignet. Wie gesagt: eher Nachhilfeunterricht, bei dem aber – unserer bescheidenen Meinung nach – Anwesenheitspflicht besteht.
Various: A Man And A Machine Vol. III. Doppelalbum. Le Son Du Maquis (Broken Silence). Zum Label.