Geschrieben am 19. Dezember 2012 von für Musikmag

Pop-Klassik: Julia Holter und Poppy Ackroyd

Christina Mohr hatte mit Klassik bisher nicht so viel am Hut – gut, dass jetzt mit Poppy Ackroyd und Julia Holter gleich zwei Musikerinnen den Spagat zwischen Pop und Klassik wagen und damit Berührungsängste abbauen.

poppyackroyd_escapementZurückschnellende Klaviertasten

Toll ist Popmusik ja immer dann, wenn Genregrenzen überschritten werden und man seinen eigenen, beschränkten Horizont erweitern kann. Ich zum Beispiel habe starke Berührungsängste klassischer Musik gegenüber und würde mich ihr nicht ohne triftigen Grund aussetzen. Umso besser (für mich), dass es Künstlerinnen wie die Londoner Komponistin, Pianistin und Violinistin Poppy Ackroyd gibt, die im Popkontext auftauchen, im Grunde aber keine Popmusik machen – andererseits: sind Chilly Gonzalez’ Piano-Alben Pop? Oder Julia Holter: Pop oder Klassik? Ihr seht schon, die Grenzen sind fließend, und das ist auch gut so.

Poppy Ackroyds Album heißt „Escapement“ und verweist mitnichten auf die Weltfluchtphantasien einer entrückten Musikerin, sondern bezeichnet den Moment, in dem die angeschlagene Klaviertaste zurückschnellt und der erzeugte Ton vibrieren kann. Wieder was gelernt dank Pop, äh, Klassik!

Ackroyd entlockt ihrem Klavier mit Gitarrenplektren und Drumsticks ungewöhnliche Töne, die Geige bearbeitet sie ähnlich experimentell. Dazu gemischte Field Recordings wie Wind, Regen und Vogelstimmen machen die sieben vom Berliner Komponisten Nils Frahm produzierten„Escapement“-Tracks zu kontemplativen und detailreichen Mini-Hörspielen im Spannungsfeld von Klassik, Drone und Pop; Komposition und Improvisation.

„Für Fans von Olafur Arnalds und Hauschka“ prangt auf dem Werbesticker des Albums, doch bei Poppy Ackroyd sollten gerade Leute zugreifen, die von den genannten Musikern noch nie gehört haben.

Poppy Ackroyd: Escapement. Denovali (Cargo). Zur Website, zur Album-Beschreibung inkl. Hörproben auf der Denovali-Homepage.

julia-holter-ekstasisGroßes Glück für alle

Schon Anfang des Jahres bejubelte die Musikpresse unisono „Ekstasis“, das zweite Album der kanadischen Musikerin Julia Holter, das bislang nur als Import erhältlich war. Jetzt ist es – dank Domino Records – auch in Europa zu haben, was ein großes Glück ist, und zwar für alle.

Das klingt großspurig und übertrieben? Ist es aber nicht, denn „Ekstasis“ ist ein kleines Wunder: die in Los Angeles geborene Multiinstrumentalistin Holter studierte Klassische Musik und Komposition am renommierten California Institute of the Arts, ist in ihrem eigenen Schaffen dem Pop aber genauso verpflichtet wie Klassik- und Experimentalmusik, was sich schon auf ihrem Debütalbum „Tragedy“ zeigte. „Ekstasis“ ist so perfekt wie spielerisch, die Stücke schweben entrückt durch den Raum, sind gleichzeitig aber ungemein zugänglich und ja, poppig.

Die Musik auf „Ekstasis“ ist klug, nicht nur wegen der Texte, die voller literarischer Anspielungen sind – Holter denkt alle nur vorstellbaren musikalischen Stile von Folk bis Electro mit, macht träumerische, sehnsuchtsvolle Zeit- und Genrereisen, verzettelt sich aber nicht.

„Ekstasis“ ist eine Entführung in ein mysteriöses Wunderland, man tritt wahrhaftig für kurze Zeit aus sich heraus, ist maßlos verzückt – was der Begriff Ekstase im Griechischen bedeutet. Vergleiche lassen sich am ehesten zu AusnahmekünstlerInnen wie Laurie Anderson, Arthur Russell oder Kate Bush herstellen, Leuten, die ebenfalls zwischen Pop und Avantgarde keine strengen Grenzen ziehen.

Am Allerbesten aber denkt man über „Ekstasis“ nicht zu viel nach, sondern gibt sich diesen unbeschreiblich schönen Tracks einfach ekstatisch hin – vor allem „Our Sorrows“ und „Goddess Eyes I & II“ sollte man in dieser dunklen Jahreszeit gehört haben.

Julia Holter: Ekstasis. Domino (GoodToGo). Zur Website, zur Myspace-Präsenz.

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