Die Art der Zurückhaltung mag eine Tugend sein, die folgenden Künstler pfeifen jedoch zum Glück drauf!
Grimes: Art Angels
Das Wunderkind Grimes aus Kanada muss im Moment für alles herhalten: Dauergebucht auf Art Shows, Konzerten, TV-Interviews, Postergirl für den postfeministischen Feminismus, Rrriotgirl für die Generation Y.
Doch mein erster Eindruck beim Hören ist: Und das soll ich jetzt genau warum nochmal gut finden?
Klar, es sind mitreißende Songs dabei, zu denen man auch unbedingt tanzen will – ganz zuvorderst die Single „Flesh Without Blood“. In ihren guten Momenten klingt Grimes wie eine Mischung aus Madonna und Robyn, zu Zeiten, als weder die eine noch die andere wusste, was sie tat (sagen wir um vier Uhr morgens nach zu viel Amphetamin. Aber dann wieder so etwas superhysterisches wie „Belly Of The Beat“, das ich noch nicht mal einem hochgradigen ADHSler durchgehen lassen würde. Hier wird alles so gehackstückt hinter-, unter- und übereinander gestapelt, dass man sich vor Verzweiflung die Haare raufen möchte. Sonja Eismann hat es in der Spex ganz gut getroffen: „Grimes klingt wie alles, was man jemals gehört hat, also wie nichts, was man jemals gehört hat.“ Dann doch lieber was anderes hören.
Grimes: Art Angels. 4AD/Beggars (Indigo). Zum Video.
Le1f: Riot Boi
Zum Beispiel das hier: Auch hippelig, aber mit einer deutlichen Message dahinter, ist Khalif Diouf aka Le1f. Schon ein erster Blick auf seine Videos zeigt, dass es dieser Rapper aus Manhattan nicht mit männlichen Gesten hat. Und so bringt er die Sache auch textlich auf den Punkt: „Fuck nigga, I fuck boys.“ Get over it, möchte man hinzufügen. Auch sein Werdegang ist ein wenig anders als andere: nach einer Ausbildung als Tänzer und einem Uni-Abschluss näherte er sich der Komposition über die Beschäftigung mit einer Studiosoftware. So produzierte er beispielsweise den Beat für Das Racists Hit „Combination Pizza Hut und Taco Bell“. Für sein Debüt hat er sich mit einer Phalanx an angesagten Kollaboranten an Bord geholt, unter anderem den immer wieder für Überraschungen bekannten Dev Heynes (Blood Diamonds), Junglepussy oder auch SOPHIE. Zu seinen musikalischen Vorbildern gehören nach Le1fs Selbstauskunft die Riot Grrls ebenso wie M.I.A. oder Missy Elliott – nicht die schlechtesten also. Von sich selbst sagt Khalif, er sei „irgendwo zwischen Aktivist und Antagonist“. Und ihm dabei zuzuhören, wie er sich als bunter Vogel in dieser Grauzone bewegt, ist sehr unterhaltsam.
Le1f: Riot Boi. XL/Beggars (Indigo).
SOPHIE: Product
Apropos SOPHIE: dessen neue EP „Product“ ist ja auch so ein heißer Scheiß, der grade rauf und runter gelobt und gehypt wird. Dieses Mal allerdings zurecht. Drauf gepfiffen, dass sich hier ein männlicher Produzent einen weiblichen Namen gibt (hey Ladies: ist doch ein cleverer und schöner Genderfuck!) und das mit dem Albumnamen eine Platitüde aufgerufen wird, nämlich die vom Pop, der schon immer und qua Definition käuflich ist und konsumiert werden will. Nicht umsonst (!) gibt es ja als Sonderedition Versionen des Albums mit Doppeldildo, Brille, High Heels oder Daunenjacke (sorry, bis auf den Dildo schon alles ausverkauft). Es bleibt nicht bei diesen schienbaren Oberflächlichkeiten. „Just Like We Never Said Goodbye“ zum Beispiel ist große Kunst in seiner Reduktion auf eine von mehr Pausen als Tönen durchsetzten Songs, der in seiner konventionellen Version ein todsicherer Trash-Hit geworden wäre. „MSMSMSMS“ wiederum wird bestimmt von einer zwingenden Bassline und Höhen, die ihren Namen zurecht tragen.
„Product“ ist von vorne bis hinten over the edge, aber trotzdem durchdacht. Wenn hier alles klingelt und fiept, dann mit System. Großartige Platte übrigens für Menschen mit Tinnitus, und das meine ich vorbehaltlos positiv. Diese 25 Minuten sind gut investierte Zeit.
SOPHIE: Product. Numbers (Rough Trade).