Hip oder Hop?
Bewirkten Gruppen wie „N.W.A.“ mit ihrem rauen Gangsta-Rap wirklich einen „fast kompletten Paradigmenwechsel“ in der noch kurzen Geschichte des HipHops? Oder waren der Newcomer Beck und die Grunge-Ikonen von Nirvana stilbildende Größen des Popjahres 1993? Die SZ-Diskothek ist davon überzeugt.
Hat er oder hat er nicht? Hat Michael Jackson das Bett mit einem 13-jährigen Jungen geteilt? Diese Frage bewegte bereits 1993 die Gemüter seiner Fans und Feinde. Sein musikalischer Ruhm stand zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht mehr in Frage. Im Februar diesen Jahres erhielt der nicht einmal 33-jährige „King of Pop“ den Grammy in der Kategorie „Lebende Legende“.
Zur Legende avancierte auch der melancholische Kurt Cobain, der mit seiner Band Nirvana 1993 das letzte Studioalbum einspielte und seinen Weltschmerz mit einer Überdosis Heroin narkotisierte. Noch extremer gaben sich die Rapper von Tupac Shur und Flavor Flav, die in ihren Texten nicht nur über Gewalt schwadronierten, sondern sie im Alltag auch auslebten. Auf solche außermusikalischen Showeffekte konnte der Newcomer der Folkrock-Szene Beck ebenso verzichten wie die innovativen Klangkünstler von Radiohead, die mit ihrem Debütalbum „Pueblo“ den Indie-Fans eine Freude machten.
Björk oder HipHop
Doch von all diesen Künstlern findet sich auf dem Sampler der SZ-Diskothek keine einzige Note. Auch nicht von Björk, deren erstes Soloalbum von der Kritik hymnisch gefeiert wurde. Entschädigung bietet das Fundstück des Jahres: Ein erhellendes Porträt über die aus den dunklen Weiten Islands stammende Sängerin, die darin ihr Image als „ätherisches“ Wesen zu widerlegen sucht. Es am Ende aber mit Bekenntnissen wie „Ich versuche, eine Welt aus der Musik hervorzubringen, die ihren eigenen Reiz ausstrahlt“ doch wieder bestätigt.
Einen ähnlichen Zauber wie die Musik der Isländerin verströmen nur wenige der hier ausgewählten Songs. Sie spiegeln vielmehr den Musikgeschmack des ehemaligen Spex-Redakteurs Hans Nieswandt wider, der in seinem Essay dem HipHop ein Denkmal setzt. Mit „Hip Hop Hooray“ von Naughty by Nature, „Könnt Ihr Mich Hör’n?“ von Marius No.1 & Cora E., „Loungin’“ von den Gurus, „Deep Shit Pt. 1 & 2“ von Kruder & Dorfmeister, „Nickel Bags“ von Digable Planets,„ I Love You Mary“ Jane von Cypress Hill & Sonic Youth und „Hey Mr. DJ“ von dem Duo Zhané haben sieben mehr oder minder originelle HipHop-Varianten die CD erobert.
Enttäuschungen und Entdeckungen
Andere Stilrichtungen sind hingegen mit nur einem Vertreter am Start. Und auch die bürgen nicht unbedingt für musikalischen Einfallsreichtum. Die um Anschluss an die Pop-Elite bemühte Band New Order präsentiert sich mit ihrem stilistisch redundanten „Regret“. Dass im New Wave und Elektro-Pop mehr Potenzial steckt, haben zur selben Zeit Depeche Mode mit ihrem Album „Songs of Faith and Devotion“ bewiesen.
Eintagsfliegen wie das eingängige „Sweet Harmony“ von The Beloved oder den Dancefloor-Hit „Hey Mr. DJ“ kann man getrost überspringen, um sich von der betont experimentell arrangierten Drum&Bass-Nummer „19.5“ (LTJ Bukem & Peshay) überraschen oder sich vom Gitarrenrock der Formation Urge Overkill mitreißen zu lassen.
Exotisches und Provinzielles
Für Pep und Pop sorgen die beiden brasilianischen Sänger Gilberto Gil und Caetano Veloso. Südamerikanisches Temperament in modernem Gewand. Ganz anders „Emoçôes“ von der ebenfalls aus Brasilien stammenden Maria Bethânia. Ein Titel, der eher an Frank Sinatra und Amerika als an ihre Heimat erinnert. Da strahlt Helge Schneider mit seinem Instrumentalstück „Vibrationboogie“ mehr Exotik aus. Die macht Bernd Begemann „Hitler – Menschlich Gesehen“ allerdings wieder zunichte. Der pseudo-intellektuelle Charme des späteren Blumfeld-Sängers vermag bei kritischeren Hörer kaum zu verfangen.
Dieses SZ-Popjahr hinterlässt einen recht zwiespältigen Eindruck. Hip (gut) und Hop (schlecht) halten sich diesmal die Waage. Eine repräsentative oder zumindest stilistisch wegweisende Zusammenschau ist nicht entstanden. Der HipHop hat auf der Anthologie Gruppen wie Suede oder Rage Against The Machine verdrängt, die in diesem Jahr für frischen Wind im Popgeschäft gesorgt haben. Mehr Ausgewogenheit hätte vielleicht auch für mehr Abwechslung gesorgt.
Jörg von Bilavsky
SZ-Diskothek 1993. Süddeutsche Zeitung – Juni 2005. Gebundene Ausgabe. 80 Seiten. 9,90 Euro. ISBN: 3866150547