Geschrieben am 30. Januar 2013 von für Musikmag

Tocotronic: Wie wir leben wollen

tocotronic_wiewirlebenwollenMittelmaß und Ambitionslosigkeit als Lebensmodelle

– 20 Jahre Tocotronic! Dieses Jubiläum ist vielen Magazinen eine Titelstory wert (INTRO interessanterweise nicht), inklusive bissiger Begriffsneuschöpfungen wie von der „Rollingstonisierung“ der Band – die natürlich genau weiß, dass anlässlich des runden Geburtstags Feierlichkeiten anstehen und deshalb die Veröffentlichung ihres zehnten (auch das noch!) Albums „Wie wir leben wollen“ mit angemessenem Bohei begleitet.

Zum Beispiel mit sage und schreibe 99 Thesen, die Tocotronic auf der Band-Homepage auflisten. Die Thesen sind Textschnipsel aus den sage und schreibe siebzehn neuen Songs von der manifestös betitelten neuen Platte – sind Tocotronic größenwahnsinnig geworden? Keine Spur! Ein bisschen schrullig und verdreht vielleicht (die Thesen zu „Wie wir leben wollen“ lauten beispielsweise: 59/“als eiserne Ladies“, 40/“nach Erdbeer riechend“, 84/“als Monchichis“, 85/“plüschophil“), dröhnendes Imponiergehabe liegt der bekennenden Feministenband Tocotronic allerdings sehr fern.

Viel mehr schwebt trotz aller diagnostizierten Gothicness und dem sich-Abarbeiten an der eigenen Vergänglichkeit eine heitere Leichtigkeit über „Wie wir leben wollen“, das – man geniert sich ja fast ein bisschen, es hinzuschreiben, weil man Ähnliches zu jeder neuen Platte von Tocotronic sagt – ein neues, vorläufiges Meisterwerk geworden ist.

Vorläufig deswegen, weil trotz aller Opulenz etwas Ephemeres mitschwingt und darauf verweist, dass das nächste Toco-Album ganz anders sein kann und wird. Apropos klingen: viel Hall und Echo ist auf der Platte, Rick McPhails Gitarrenläufe sind bis zur Unkenntlichkeit verwischt – auf historischen analogen Aufnahmegeräten eingespielt und von Maestro Moses Schneider produziert.

Wenig rockistisch, eher sanft

Klassisch, antimodernistisch und doch so wenig rockistisch, sondern eher sanft klingen Tocotronic anno 2013: an den Beatles und Beach Boys in ihren experimentellen Phasen orientierte sich die Band, und manches Stück wirkt Smiths-inspiriert. Doch Honky-Tonk-Geklimper und Kinderlied-Melodien sind hauptsächlich dafür da, den Texten und Dirk von Lowtzows wundervoll dandyesk-manierierter Vortragsweise immer wieder neue Betten zu bereiten.

Nina Pauer schreibt in der Zeit von der Tocotronicschen „Ton-Text-Schere“, also dem paradoxen Effekt, dass die Worte immer düsterer werden, je zupackender und fröhlicher die Musik dazu klingt. Das fängt schon beim ersten Stück „Im Keller“ an: „Hey! Jetzt bin ich alt / Hey! Bald bin ich kalt!“ singt von Lowtzow, und es scheint, als freue er sich auf sein baldiges Ableben – doch im Keller wächst schon eine neue Generation heran und hey!, es gibt überhaupt keinen Grund für Traurigkeit und Sorge, schon gar nicht um sich selbst.

Dennoch ist „Wie wir leben wollen“ ein sehr körperbezogenes Album, so viel Krankheit, Viren, Befindlichkeit und Absinken in unerforschte Tiefen gab´s bei Tocotronic noch nicht; allerdings ist es einem Quartett von Frühvierzigern durchaus erlaubt, seine Gebrechen zu reflektieren, wie z. B. in „Die Revolte ist in mir“. Tocotronic haben viel Freude daran, tradierte Bilder und Haltungen zu unterlaufen – mit einem freundlichen Lächeln: „ich bin ein Neutrum / mit Bedeutung“ singt von Lowtzow und meint ganz explizit nicht Androgynität.

Des weiteren propagieren Tocotronic allem Zeitgeist zum Trotz das Mittelmaß und Ambitionslosigkeit als anzustrebende Lebensmodelle (in von Lowtzows Sicht das ultimative Dandytum), verkünden aber auch, „Ich bin noch nicht vollendet“, und dass man „ein Roman mit mehr als tausend Seiten“ sei („Neutrum“). Tocotronic tanzen auf einem Tisch voller Antinomien, verbinden Marxismus und christlich geprägtes Vokabular (siehe Interview mit Jens Balzer in der Frankfurter Rundschau) und sind aus tausend (oder 99) Gründen gerade jetzt so wichtig wie nie.

Christina Mohr

Tocotronic: Wie wir leben wollen. Universal. Zur Homepage der Band.

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