Diese Aufnahmen stellen einen neuen Höhepunkt in der fast zehnjährigen Schaffensphase des Ensembles dar. Von Tina Manske
Mit dieser 3-CD-Box ist dem zeitkratzer-Ensemble um Reinhold Friedl eine wahrhaft bewusstseinserweiternde Veröffentlichung gelungen. Auf jeweils einer CD dokumentieren sie Kooperationen mit drei der innovativsten Elektronikschaffenden der Gegenwart – Carsten Nicolai, Keiji Haino und Terre Thaemlitz.
Auf den ersten Blick am zugänglichsten dürften die Kompositionen von Terre Thaemlitz sein, und wahrscheinlich war zeitkratzer noch selten so poporientiert wie auf dieser Aufnahme. „Down Home Kami-Sakunobe“ beginnt mit einem ansteckenden Beat und Handclaps sowie einer betörenden bassline, zu denen Thaemlitz einen fast fröhlichen Chant über Arbeitslosigkeit beisteuert. Rhythmus wird hier nicht scheel angesehen, sondern als Gerüst benutzt, auf dem man Neues aufbauen kann. „500 year orbit“ dagegen schockiert geradezu mit einem dissonanten Klaviersolo vom feinsten, bevor „Sloppy 42nds“ die Geigentöne in einem nicht enden wollenden Glissando brutal gen Himmel reißt – großartig gespielt. Bei „Hobo Train“ wird’s sogar wildwestlich, wie beim Tanz auf dem Heuboden eines texanischen Farmers. Der leise Haupttitel „Superbonus“, eine insgesamt über 25 Minuten lange Fahrt am seidenen Faden, versteckt sich hinter einem permanenten Radiorauschen. „Im syntaktischen Sinn vermehrt die Störung den Informationsgehalt des Gesamtsignals, weil es seine Vielfalt vergrößert“, wird Robert R. Höldrich im Booklet zitiert, und genau darauf kommt es diesen Kompositionen an: die Vielfalt zu vergrößern, sich zu trauen, alles Mögliche auch tatsächlich möglich zu machen.
Bei Keijo Haino haben wir es mit einem radikalen japanischen Multiinstrumentalisten und Noise-Künstler zu tun, der in seinen Arien mit seinem Falsett Gläser zum Zerspringen bringt. Die Zusammenarbeit war vielleicht nicht immer leicht, geprägt vom Hin und Her zwischen Improvisation und Planung, doch am Ende steht auch hier die Befreiung von der Regel und von der Konvention, der Lärm als ungezügeltes, dionysisches Element, das man der Musik nicht entreißen kann, ohne sie unnötig zu zähmen. Diese Platte erfordert vom Hörer vielleicht die meiste Geduld, für die man aber nach einigen Durchgängen mit unvergesslichen Eindrücken belohnt wird.
Auch die minimalistischen Soundscapes von Carsten Nicolai sind in der Umsetzung von zeitkratzer Musiken zum Immer-wieder-Hören. Auf den vier Stücken wird die vergehende Zeit zu einem stilbildenden Element, mal in Form einer tickenden Uhr, die als einziger Rhythmus Struktur gibt, meist aber in Form der langen Töne, die – ohne große Modulationen – über die gesamte Länge der Stücke konstant bleiben. In „5 min“ beispielsweise werden lediglich elektronische Soundgeneratoren zum Klingen gebracht, um am Ende in einer 10-kHz-Wabe aus white noise, produziert von einer TV-Bildröhre, aufzugehen. Durch die analogen Instrumente der Zeitkratzer-Musiker (Bassklarinette, Trompete, Tuba, Cello, Violine…) erhalten die Stücke eine warme Grundierung, sie werden, bei einer weiterhin den Sound durchziehenden Bedrohlichkeit, fast meditativ.
Die Aufnahmen für die drei CDs entstanden bei Liveauftritten in Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und Österreich. Wer sich wirklich für Neue Musik interessiert, der kann schon lange an zeitkratzer nicht vorbei. Diese Aufnahmen aber stellen einen neuen Höhepunkt in der fast zehnjährigen Schaffensphase des Ensembles dar. zeitkratzers Musik macht auf wilde Art und Weise glücklich, weil sie den Blick weit macht.
Tina Manske
zeitkratzer: Electronics. 3 CD mit Carsten Nicolai, Terre Thaemlitz und Keijo Haino. Zeitkratzer Records (Vertrieb: Broken Silence).
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