Tagebuchgeflüster
Alexa Hennig von Lange kehrt der Popliteratur den Rücken und schreibt ein nachdenkliches Buch über die Erinnerung, das über weite Strecken blass bleibt.
Hochsommer, Schulferien. Eine Familie verbringt den Urlaub im Ferienhaus am Wattenmeer: Vater, Mutter, 13-jährige Tochter, 6-jähriger Sohn. Mit dem Jungen an der Hand spaziert der Vater bei Ebbe übers Watt, Richtung Meer. Der Kleine ist glücklich, freut sich, winkt Mutter und Schwester zu, die ebenfalls im Watt wandern. Plötzlich füllen sich die Priele. Vater und Sohn gehen weiter, hören die warnenden Rufe nicht. „Lauf so schnell du kannst!“, brüllt die Mutter, schubst ihre Tochter Richtung Strand und verschwindet in die andere Richtung – dorthin, wo sie Mann und Sohn vermutet. Die Tochter rennt, schafft es, wartet am Strand … Der Vater kehrt allein zurück.
Trip in die Vergangenheit
Viel mehr weiß die 30-jährige Ich-Erzählerin in Alexa Hennig von Langes Kurzroman Woher ich komme nicht über die Stunden, in denen sie vor 17 Jahren Mutter und Bruder verloren hat. Doch eine Reise mit dem vereinsamten Vater in das Ferienhaus, in dem die Familie ihre gemeinsamen Sommerurlaube verbracht hat, wird zum Gedankentrip in die Vergangenheit. Der Text folgt den Assoziationen einer jungen Frau, die Klarheit über sich und ihre Jugend erlangen will.
Gerüche, Klänge, Berührungen, Details, die gelben Griffe der Schränke, die kühle Stille im Haus, alle sinnlichen Eindrücke, die die Erzählerin während der Reise sammelt, lösen Erinnerungen aus, die sich wie Teile eines unüberschaubaren Mosaiks zusammensetzen lassen und immer neue, vergessene Zusammenhänge ergeben. Nicht nur über den dramatischen Unfall im Wattenmeer, auch über die tiefen Risse in der Ehe der Eltern, die Ängste der Mutter und die bedenklichen Annäherungsversuche des Ferienhausvermieters an die Töchter seiner Kunden.
Hennig von Langes in nüchterner Prosa gehaltene Erzählung bleibt bis zum Ende hin verrätselt, lässt die Ereignisse nur erahnen. Was die Qualität des Textes sein könnte, markiert seine eigentliche Schwäche: Denn wenn schon die kunstlose Sprache bis auf einige gelungene szenische Stimmungen und eine diffuse Nostalgie keine Intensität erzeugt, dann hätte wenigstens aus der Verstrickung der Personen, den Handlungen und den aufgedeckten Geheimnissen mehr Potenzial gezogen werden müssen. Vieles bleibt in einer angestrengt geheimnistuerischen Grauzone.
Diffuse Grauzone
Man muss nicht gleich weltliterarisches Niveau à la Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zitieren, um ein Beispiel für einen besseren Roman über die Erinnerung zu geben. Auch der wenige Jahre ältere deutsche Schriftsteller Helmut Krausser hat in diesem Jahr mit UC ein Werk über Formen der Erinnerung und deren Wahrnehmung vorgelegt, das bezüglich atmosphärischer, reflexiver und poetischer Dichte Woher ich komme wie ein naives, unbeholfenes Tagebuch wirken lässt.
Nach dem Hype um die bereits etwas verstaubte Popliteratur, zu der Alexa Hennig von Lange mit ihrer Party- und Drogengeschichte Relax (1997) gezählt werden konnte, tut sie zwar das einzig Richtige: sie versucht nicht, dieser medienwirksamen Episode junger deutscher Literatur hinterher zu trauern, sondern sich neuen Herausforderungen zu stellen. Trotzdem gelingt ihr nach dem Jugendroman Ich habe einfach Glück (2001) auch mit Woher ich komme nur ein Achtungserfolg.
Markus Kuhn
Alexa Hennig von Lange: Woher ich komme. Roman. Rowohlt Berlin 2003. Gebunden, 109 Seiten, 14,90 Euro. ISBN: 3-87134-459-1