Die Unverschämtheit, ich zu sagen
– Alf Mayer über Matthias Altenburg und sein Internet-Tagebuch „Jan Seghers‘ Geisterbahn“.
Schande auf mein Haupt. Nein, ich habe ihn bisher nicht gelesen, habe nicht verfolgt, was er seit 2005 mehr oder weniger täglich in seinem Internet-Tagebuch veröffentlicht. „Jan Seghers‘ Geisterbahn. Tagebuch mit Toten“ heißt es und ist zu finden unter: janseghers.de. Nicht nur vielen Frankfurtern ist er kein Unbekannter, dieser Matthias Altenburg, dem als Jan Seghers die Berufsbezeichnung Krimi-Schriftsteller anhängt, der aber – natürlich – weit mehr ist. Um das Mindeste in aller Kürze zu sagen: ein interessanter Zeitgenosse.
Aus seinem Tagebuch weiß ich, bei Genosse zuckt er zusammen. Eben deshalb. Man darf als Leser auch ein wenig zurückärgern. Nicht dass ich ein sehr großes Bedürfnis diesem Altenburg gegenüber hätte, ein wenig aber schon. Er hat mir viel Zeit gestohlen. Wie das so ist, wenn man jemandem am Abend in der Kneipe etwas zu lange und zu überdosiert zugehört hat. Oder wenn man seine Internetaufzeichnungen vom 4. Januar 2006 bis zum 15. Juni 2011 in einem Rutsch an drei Tagen durchgelesen hat. Der Rowohlt Verlag macht das möglich, er hat diese Notate gesammelt in einem Buch herausgebracht.
Altenburg ist ein ziemlich physischer Typ, auch in seinem Schreiben, eigentlich gar kein Schreibtischhocker, sondern Radrennfahrer, Kneipengänger, Rumtreiber, Spaziergänger. Kein Flaneur, darauf legt er vermutlich heute noch Wert. Sein „Kampf den Flaneuren“ von 1992 war so etwas wie eine Generalabrechnung mit den Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Eine Literatur fern der Lebenswirklichkeit warf er ihnen vor. Der 1958 geborene Altenburg stammt aus Fulda, Kriminalromane schreibt er seit 2004, vier sind es bisher: „Ein allzu schönes Mädchen“ (ein Titel, der mich damals vom Lesen abhielt), „Die Braut im Schnee“, „Partitur des Todes“ und 2010 „Die Akte Rosenherz“. Er lässt sich Zeit, recherchiert für seine Romane, sinniert und verwirft, mischt sich als Essayist ins zeitgenössische Geschehen.
„Jemand wacht auf, jemand überhört den Wecker …“
Davon vermittelt die „Geisterbahn“ auch weit mehr Eindruck als von der Entstehung seiner Kriminalromane – worauf ich eigentlich gehofft hatte. Aber so ist das, wenn man in fremder Leute Tagebuch liest. Sie schreiben für sich selbst, nicht für dich; da kann man nicht auf jeder Seite Beute für sich machen. Matthias Altenburg/Jan Seghers ist sich – und das hat mich schnell für ihn eingenommen – seiner Rolle als öffentlich Privater bewusst. Er weiß um die Tücken und Fallhöhen „eigener“ Aufzeichnungen. Schon im dem Buch vorangestellten Motto versucht er, neben allem Augenzwinkern, Erwartungen zu dämpfen: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues“, zitiert er Samuel Beckett. Nichts Neues also unter der Sonne. Der Vortext dann auch Alltagsbanalität, allerdings in schöne Form gebracht: „Jemand wacht auf, jemand überhört den Wecker, jemand verschläft, jemand stellt sich auf die Waage, jemand hat keinen Appetit, jemand muss ja die Brötchen backen, jemand dreht sich noch mal auf die andere Seite, jemand rasiert sich, jemand ist schon lange wach, jemand hatte Nachtschicht, jemand isst sein Müsli, jemand ist Politiker, jemand sagt: ‚Auf jetzt!‘, jemand macht sich auf den Weg, jemand hat Halskratzen, jemand betrachtet sich in der Schaufensterscheibe …“, so geht das noch im gleichen ersten Satz über eineinviertel Seiten weiter.
Das Tagebuch – und Leute, die zum Gaffen kommen
Eine Schaufensterscheibe ist das natürlich, solch ein Internet-Tagebuch. Da schaut man noch mal rein, bevor es zum Interview zum „Hessischen Rundfunk“ geht (was Altenburg am 1. Februar 2006 so beschreibt, dass sie ihn dort wieder einladen würden), zu einem Fernsehauftritt oder ähnlichen Selbstvergewisserungs- und Behauptungsaktionen. „Ob man ein Tagebuch schreibt, insgeheim, für sich, oder ob man das hier macht, öffentlich, jeden Tag, ist halt doch ein Riesenunterschied. Man stellt sich dauernd unter Beobachtung. Noch dazu, ohne zu wissen, ob jemand wirklich hinguckt. Manchmal regt mich das richtig auf, der Gedanke, dass hier täglich ein paar hundert Leute zum Gaffen vorbeikommen, immer wissen, was ich mache, was ich denke, was ich fühle, ohne zu reagieren. Sie sagen nichts, sie drehen wieder ab und denken sich ihren Teil. Aber was, egal. Ich rede wie ein Exhibitionist, der sich darüber beschwert, dass es Voyeure gibt“, notiert er am 9. März 2006. Am 31. Mai 2006 dann: „Das regelmäßige Schreiben eines Tagebuchs hat auch etwas Stumpfsinniges … wird man auch noch zum Buchhalter des eigenen Lebens? Und diese Zuwendung, die ein Journal braucht – schlimmer als sein Haustier.“
Am 3.November 2006 knüpft er an: „Wenn ich ein Internet-Tagebuch entdecke, das mich interessiert, dann aber feststelle, dass es über Wochen keine Einträge enthält, erlahmt meine Aufmerksamkeit … Ich beginne, dem Autor zu misstrauen. Eine gewisse Notwendigkeit, ein gewisses nervöses Verhältnis zur Welt, zum Alltag gehört schon dazu.“ Und dann, das nahm mich endgültig für ihn ein: „Ein Manko vieler Blogs ist, dass deren Verfasser ihre Vorgänger nicht kennen. Sie wissen nichts von dem jahrhundertealten Genre und dessen formaler Vielfalt. Sie kennen nicht Samuel Pepys, nicht Kafka, nicht Cesare Pavese – (sein „Handwerk des Lebens“ auch einer meiner Favoriten) –, nicht Knut Hamsun, nicht Sandor Marai, nicht Max Frisch, nicht Hermann Peter Piwitt.“
Am 2. November 2010 gesteht er: „Das öffentlich geführte Tagebuch ist eine Lüge. Es ködert die Leser mit der Erwartung, Intimes, wenigstens Privates zu erfahren. Aber jeder niedergeschriebene Satz ist eine Verstellung. Eine Verstellung, die vielleicht auf Annäherung, gar auf die Wahrheit aus ist. Aber die Wahrheit ist nie privat.“
Die Wahrheit ist nicht privat
Ist sie nicht, und Altenburg leistet seinen Teil, sie herzustellen – indem er uns, wie immer fragmentiert und subjektiv, seinen Blick auf die Welt mitteilt, damit nolens volens den unseren ergänzt. Da ist zum Beispiel, eigentlich ganz banal, seine Auswahl der Todestage. „Warum scheue ich mich, einfach hinzuschreiben „Karl Marx ist tot“? Weil es so fett klingen würde, oder? Aber tot ist er doch.“ (14. März 2008) Sechs Tage später dann erinnert er an Alfred Ploetz, den Erfinder des Begriffs „Rassenhygiene“, fünf Tage später an Novalis, am nächsten Tag sind ihm die Toten mal egal, fünf Tage später nennt er den Marquis de Mirabeau, acht Tage später den im Hinterhalt getöteten Emiliano Zapato und Günter Guillaume – den aber ohne den Zusatz „Brandt-Spion“. Meist sind es einfach die Namen, die Altenburg uns gibt, den Rest muss man als Leser selbst besorgen. Es geht auch um Konzerte und Stücke klassischer Musik, um Vorlesereisen, ein wenig um Frankfurt, immer wieder um die Wetterau (mit dem Fahrrad), um Reisen, Alltagsbeobachtungen, Reflexionen in meist gemäßigter Form. Das Kurbad in Königstein scheint es ihm angetan zu haben, auch die Frankfurter Dichterin Eva Demski, bei der er immer etwas aufgeregt wird.
Für meinen Geschmack ein wenig dünn gestreut sind durchgearbeitete Vignetten. Klar, man muss sie der Tagesarbeit abtrotzen, die gute Nachricht ist: Sie nehmen zu. Am 12. April 2012 etwa ein guter, kleiner Text über das fortwirkende Gift der Nazi-Generation bei ihren angeknacksten Kindern, die nun auch schon in die Jahre gekommen sind, selber Kinder haben und manche Deformation weitergeben, immer neue Opfer produzierend, die zu immer neuen Tätern werden. (Wenn das keine Motivkette für einen Kriminalautor ist.) Bereits am 15. September 2006 übrigens macht sich der Krimiautor Altenburg – der allerlei Polizeiermittlungen mit verfolgt, sogar auch in Kalifornien zum Beispiel, ein Auge offenkundig offen immer für Verbrechen – seine Gedanken zu den damals zynisch so genannten „Döner-Morden“: „Alles, was man hat, ist ein Täterprofil, das so allgemein wie nichtssagend ist.“
Kerker, Wasser und Brot für Martin Mosebach
Wenn man jenseits des Sammelbandes in sein Internet-Tagebuch schaut, stellt man fest: Altenburg wird immer radikaler und böser, findet nach den Wellenbewegungen der letzten Jahre nun zu einer nuancierteren Form – dazu kann man ihn nur ermuntern. Ich will das mit ein paar „Episoden“ und Beispielen tun.
Am 20. Juni 2012 etwa nennt er anlässlich des Vorschlags unseres Großschriftstellers Martin Mosebach, doch Gotteslästerung unter Strafe zu stellen, diesen einen „aufgeklärten Obskuranten“ und zitiert einen Freund: „Man würde diesem Mann womöglich einen Gefallen tun, wenn man ihn bei Wasser und Brot in den Keller schickte. Dann hätte er Gelegenheit, seinen Geschmackssinn zu verfeinern.“
Über Godard sinniert er (22. Dezember 2010), angestiftet von einem Zitat Daniel Cohn-Bendits: „Wo immer auch Godard Stellung bezieht, er übernimmt die radikalste Position.“ Da sei es wohl, meint Altenburg, was ihn an Godard befremde: „Radikal sein zu wollen kommt mir vollkommen lächerlich vor. Man will wach sein, klug, neugierig, entspannt, unbestechlich. Aber radikal? An den Rand gedrängt wird man von den Verhältnissen doch ohnehin, wenn man sich den Blick auf sie nicht verstellen lassen will.“ Und dann im Mai 2012, in den Tagen von „Bankupy“ in Frankfurt, läuft er zu wirklich großer Form auf, als nicht Demonstranten, sondern eine Polzeigroßmacht das Frankfurter Bankenviertel lahmlegte: „Was für ein schöner Samstag! Noch vor einem Jahr hätte ich nicht geglaubt, dass das noch einmal wahr werden würde. Wenn die Welt so wäre, wie sie sein sollte, wäre sie wohl ein wenig so wie Frankfurt vor drei Tagen: zwanzig-, fünfundzwanzigtausend Leute, die durch die Stadt ziehen, singend, spottend, lachend, skandierend, tanzend – einander so fremd, einander so nah. Gottlob nicht nur die immer gleichen alten Säcke wie man selbst, sondern alles durcheinander: französische Clowns, chilenische Sozialistinnen, deutsche Tierschützer, griechische Kommunisten, spanische Anarchisten, libertäre Sambatänzer, viele Gewerkschafter, Pazifisten, Linke aller Couleur, Lesben, Schwule, Transsexuelle, Umweltschützer, Nackte, Autonome …
Selten habe ich so viele Menschen beisammen gesehen, die auf eine so angenehme Weise anders waren als ich selbst, dass ich bei jedem zweiten gerne gewusst hätte, was ihn treibt, was sie macht, was er ist, was sie will … Endlich einmal war man nicht umgeben von den ewig gleichgeschalteten Dumfpnasen, die alle vier Jahre ihr Kreuz machen, ansonsten ihre Autos waschen und jeden für weltfremd halten, der kein Fernsehen guckt und immer noch nicht glauben will, dass es das Kapital ist, das arbeitet. Und diesen Tag wollte man uns verbieten, diesen gottgeilen Tag meinte man, durch eine Armee hochgerüsteter Polizisten klein halten zu können. Aber diesmal sind sie nicht durchgekommen. Dieser Tag war stärker. Man kann ihn uns nicht mehr nehmen.“
„Lieber stehend sterben als auf Knien leben“, dieser Satz von Dolores Ibárruri fällt mir da wieder ein, den Altenburg einmal zitiert hat. Es setzt sich etwas fest in einem, aus seinem Journal. Und meine Hochachtung an dieser Stelle nun dafür, solch ein Unternehmen schon im siebten Jahr durchzuhalten. Das wagen nicht viele Autoren. Ist halt doch ein zäher Hund, der Altenburg. Ich gehe gern auf seine Geisterbahn. Da schreibt einer nicht auf Knien.
P.S. Ein Eintrag vom 2. Juni 2006: „Seit zwei Jahren empfangen wir das ZDF ohne Ton und haben bislang nichts vermisst.“
Alf Mayer
Matthias Altenburg: Jan Seghers‘ Geisterbahn. Tagebuch mit Toten. Roman. Hamburg: Rowohlt Verlag 2012. 414 Seiten. 24,95 Euro. Zum Blog des Autors. Eine weitere (kritische) Betrachtung des Buches finden Sie hier (CM vom 13.6.12)