Geschrieben am 25. September 2013 von für Bücher, Litmag

Andréa del Fuego: Geschwister des Wassers

Andrea del Fuego_GeschwisterBiographisch-magischer Realismus aus Brasilien

– Andréa del Fuego schreibt in ihrem Debutroman die Geschichte der eigenen Familie. Doch haben wir keine trockene Familiengenealogie vor uns, sondern einen ziemlich, ja tatsächlich, nassen Roman, der an orale Erzähltraditionen Lateinamerikas erinnert und magische Elemente mit viel Wasser einflicht. Witzig und mit ganz eigenen Erklärungen für die Phänomene von Natur und Kultur ersteht die Geschichte der drei Waisen Nico, Júlia und Antônio Maláquia und wir lassen uns entführen in die brasilianische Serra Morena, wo ein Tal zum Stausee wird. Von Christiane Quandt.

Gleich zu Beginn wird das Haus, in dem die Eltern Adolfo und Donana sowie die drei Geschwister leben, vom Blitz getroffen. Doch überleben die Kinder, da sich ihr Blutkreislauf gerade in der Diastole befindet und nicht wie der der Eltern in der Systole. Später stellt sich heraus, dass Antônio kleinwüchsig („ein Zwerg“) ist, was auf komplexe Weise mit dem Blitzeinschlag zu tun hat. Auch das kaum erklärliche Verschwinden und Erscheinen von Säuglingen spielt in Júlias Leben eine Rolle und das Wasser bringt nicht nur elektrisches Licht, sondern es ermöglicht auch dem Geist der verstorbenen Geraldina den Weg über einen Blutstropfen durch die Glühbirne zurück in das Haus, wo sie ihrer Vorliebe für den „Zwerg“ Antônio frönt. Nico hingegen fällt in die Kaffeekanne, ist für einige Tage verschollen und kommt mit braunen statt blauen Augen zurück. Es gibt einen Maispudding, der niemals schlecht wird und das Schiff, das auf der anderen Seite auftaucht, beherbergt nicht nur diverse ominöse menschliche wie tierische Zwillingspaare, sondern auch eine verstorben geglaubte Hausangestellte.

Die Geschichte der drei Waisen

Die drei Geschwister werden nach dem Tod der Eltern getrennt und die jüngeren, Júlia und Antônio, kommen in die Klosterschule der nahe gelegenen Stadt, Nico dagegen wird von Geraldo, dem Großgrundbesitzer zur Arbeit auf der Kaffeeplantage rekrutiert. Wir verfolgen den Werdegang der drei Geschwister, die getrennt wurden und jeweils ihr Leben zu leben versuchen. Dabei bleibt Júlia für eine Zeitlang am Busbahnhof, Nico wird Vater von Zwillingen, Antônio bleibt lange bei den Ordensschwestern und entdeckt seine Vorliebe für Schubladen und mit dem Wasser kommt schließlich das Licht ins Tal. So entspinnt sich die Geschichte der Geschwister parallel und scheint auf eine Wiederbegegnung zuzusteuern, die durch das Schiff, das Maria, Nico, Antônio und die Kinder jenseits des Übergangs zur „anderen Seite“ betreten, noch wahrscheinlicher. Denn in der Zwischenzeit hat Júlia sich ihres eigenen Kindes mit dem Kurzwarenhändler Messias durch die Ominöse Frau auf dem Busbahnhof entledigt, da er sie wegen dessen Zwergenwuchs verlassen hat. Und sie begibt sich auf den Weg zum Hafen. Ob sich die drei wohl wieder treffen?

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Andréa del Fuego by André Toledo Sader

Witzig, kurzweilig und doch nachdenklich

Dass es sich um die Geschichte der eigenen Familie handelt, erfährt man erst durch Interviews mit der Autorin, der Text selbst könnte genauso gut frei erfunden sein. Die vielen kleinen magischen Einzelheiten und die wunderbar detailreiche Beschreibung der Figuren öffnet die Tür zu einer unterhaltsamen Lektüre und einer zauberhaften Welt. Man wird an die Erzählungen der Großmutter erinnert, die man als Kind zu hören bekam und an die eigene kindliche Verarbeitung dieser Geschichten. Doch dem erwachsenen Leser fallen die Schwierigkeiten auf, welchen die Waisenkinder auf ihrem Weg begegnen und die auf ganz reale soziale Konstellationen und kaum auf Magie zurück zu führen sind. Gleich zu Beginn wird die weitreichende Macht des Großgrundbesitzers Geraldo überdeutlich, der Nico einfach zur Arbeit bei sich behalten kann. Júlias Adoption durch eine gewisse Leila lässt sich durchaus als Menschenhandel bezeichnen, und die Tatsache, dass sie später wegen eines kleinwüchsigen Kindes von ihrem Mann verstoßen wird, stimmt ebenfalls nachdenklich; obgleich Júlias Selbstverständnis jegliche Schuldfrage als absurd herausstellt, scheint es kein Problem zu sein, ihr eigenes Kind an Unbekannte wegzugeben. Der Kleinwüchsige Antônio wiederum wird als ewiges Kind wahrgenommen, obwohl er in den Unterwäscheschubladen der Ordensschwestern wühlt um seine pubertären Energien zu kanalisieren und später durchaus Gefallen an seiner Schwägerin findet. Kurz, die sozialen Missstände im brasilianischen Hinterland des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts werden hier anhand der Einzelschicksale der Figuren, wenn man genau hinsieht, deutlich.

Wer sich für Brasilien interessiert und vielleicht schon einmal am hispanoamerikanischen Magischen Realismus Gefallen gefunden hat, kommt bei „Geschwister des Wassers“ auf seine Kosten. Die 1975 geborene Autorin aus São Paulo hat mit ihrem preisgekrönten Debut eine überaus witzige und spannende Geschichte vorgelegt, die, in der wunderbaren Übersetzung von Marianne Gareis, zum Nachdenken anregt.

Christiane Quandt

Andréa del Fuego: Geschwister des Wassers (Os Malaquias, 2012). Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis. Hanser Verlag, München 2013. 208 Seiten. 17,90 Euro. Foto: André Toledo Sader.

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