Geschrieben am 8. Juni 2009 von für Bücher, Litmag, Vermischtes

Andrea Breth: Frei für den Moment

Theater als Obsession und Glücksspender

Peter Münder über den faszinierenden Andrea-Breth-Interviewband Frei für den Moment.

Welcher Theaterregisseur kann schon so gänzlich uneitel und selbstkritisch über seine Arbeit sprechen wie Andrea Breth? Sie war 2003 mit ihrer epochalen Emilia Galotti-Inszenierung zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden, hatte jedoch 1980 mit ihrer ersten Emilia Galotti in Berlin einen furchtbaren Reinfall erlebt. Doch sie empfinde angesichts dieser Einladung keine besondere Genugtuung, erklärte sie damals: „An mir ist nichts gutzumachen, ich war damals einfach zu jung und unerfahren, um zu kapieren, worum es in diesem Trauerspiel geht. Es war mir ein dringendes Bedürfnis, diesen Missgriff gegenüber Lessing zu beheben.“

Andrea Breth, 57, nach fünfjähriger Leitung der Berliner Schaubühne (1992–1997) jetzt in Wien lebend und am Burgtheater arbeitend, versteht sich als ebenso radikale wie sensible „Dienerin des Textes“. Sie will sich nicht, wie manche jüngeren Regisseure, mit überzogenen, effekthascherischen Gags auf Kosten der Texte profilieren und hält eine obsessive Theaterleidenschaft für eine Grundvoraussetzung erfolgreicher Regiearbeit. Ihre legendären Schnitzler-Inszenierungen (Der einsame Weg, 2001, Das weite Land, 2002) waren wegen ihrer Klarheit und Präzision, aber auch wegen ihrer kompromisslosen Schärfe, mit der gesellschaftliche Schwachstellen bloßgelegt werden, als Meilensteine der Theaterkunst bejubelt worden: „Sie holt versunkene Welten ans Licht – auch Welten, die bisher noch niemand sah“, schrieb FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier begeistert über die „Ausgräberin“ Andrea Breth. Und über ihre Version der Emilia Galotti urteilte Stadelmaier ebenso euphorisch: „Man wird als Zuschauer fast verrückt vor Glück vor all dem, was hier gelingt. Wer überhaupt wissen will, was Theater noch kann, der kann es hier wissen.“

“Ich bin euer Trainer“

Ja, was kann eine Regisseurin heute noch bewegen, wie kann sie die Schauspieler motivieren, was kann sie ihnen zumuten, wie analysiert sie einen Text und bringt eine möglichst werktreue Interpretation in die Probenarbeit ein? Und wie bewältigt sie die Besonderheiten des Musiktheaters – sie inszenierte Carmen, Orfeo ed Euridice, Die verkaufte Braut und Eugen o­negin –, das Andrea Breth ja in den letzten Jahren immer stärker faszinierte? Der spannende Interview-Band Frei für den Moment enthält Gespräche und Porträts, die Antworten auf diese Fragen liefern. Die von der FAZ-Kritikerin Irene Bazinger geführten Interviews gehen auch auf Misserfolge und Krisen wie den Abbruch der Berliner Wallenstein-Proben ein. Die manisch-depressiven Phasen der Künstlerin werden ebenso angesprochen wie ihre Homosexualität und die Partnerschaft mit der Schauspielerin Elisabeth Orth, was mir hinsichtlich ihrer künstlerischen Aktivitäten eher irrelevant zu sein scheint. Ein kurzer Rückblick auf ihre Zeit in Nottingham, wo sie als 16-jährige Schülerin ein eher tristes Jahr verbrachte, offenbart en passant, dass sie damals eigentlich nur im dortigen Theater glücklich war: Das Theater war für sie damals – und ist es wohl immer noch – ein immenser Glücks- und Trostspender. Das scheint mir die wunderbare, erhellende Quintessenz des Bandes zu sein.

Ähnlich wie der auf Freie Gruppen spezialisierte Theatermacher Michael Roberg, der schon vor über zwanzig Jahren in seinem Buch die These propagierte „Theater muß wie Fußball sein“, will auch Andrea Breth den Regiejob wie ein Fußballtrainer ausüben: „Ich sage oft zu meinen Schauspielern: Ich bin euer Trainer. Ich organisiere die Bewegungen auf dem Spielfeld und eine Strategie, dass ihr euch nicht gegenseitig auf den Füßen steht.“ Sie betont zwar oft das Handwerkliche und Pragmatische der Theaterarbeit, aber das liegt daran, dass sie die ästhetisch-inhaltliche Faszination einer Inszenierung als Selbstverständlichkeit begreift, die nach intensiver Lektüre und Analyse aus dem Text herausgefiltert und dann auf der Bühne umgesetzt werden muss.

Sie ist eine radikale Puristin mit extrem hohen Ansprüchen an sich selbst, daher ist Andrea Breth wohl auch anfällig für Depressionen. Sie ist aber auch kritisch und absolut kompromisslos gegenüber den Kollegen, die ihre Theaterarbeit als eine Art Nischenjob neben Film- und TV-Aktivitäten verstehen. Was dann prompt zur Krise an der Schaubühne führte, weil sie als Leiterin nicht einsehen konnte, dass Proben und Premierentermine für die meisten Schauspieler nur neben Dreharbeiten und vielen Auslandsterminen angesetzt werden sollten. Als die Flugverbindungen der Lufthansa dann entscheidender für die Probentermine der Mimen waren als die intensive, längere Arbeit an einem Stück, warf sie an der Schaubühne den Bettel einfach hin. Nicht zimperlich ist die Regisseurin auch, wenn Schauspieler oder Sänger sich gegenüber ihren Konzepten und Einfällen allzu zögerlich oder skeptisch verhalten. Ein im Wasser agierender Chor, der im Liegen üppig bewässert singen soll, damit konnten sich viele Sänger der Tschaikowski-Oper Eugen o­negin nicht anfreunden: Drohte da nicht eine kräftige Erkältung oder gar Rheumatismus? Die Pragmatikerin Breth fackelte nach vehementen Künstlerprotesten nicht lange, organisierte wasserdichte Spezial-Thermounterwäsche und so konnte der Wasserchor dann doch noch ohne Unterkühlung auftreten. Übrigens dirigierte Daniel Barenboim ihre Inszenierung während der Salzburger Festspiele 2007 und war von der Zusammenarbeit mit Breth begeistert. Für den vorliegenden Band verfasste er ein sehr einfühlsames, luzides Vorwort.

Wechselbäder von Frust und Freude

Neben Lessing, Schnitzler, Schiller, Tschechow und anderen Klassikern hat Andrea Breth auch ein Faible für Komödien von Alan Ayckbourn, Jewgeni Schwarz (Die verzauberten Brüder), Sean O´Casey und Friedrich Karl Waechter (Schule mit Clowns). Sie liebt das Sondieren in psychischen Untiefen der Bühnenfiguren, die Wechselbäder von Frust und Freude, Lust und Leid, Berechenbarkeiten und Überraschungscoups. Ihre Wiener Inszenierung (2004/ deutsche Erstaufführung) des umstrittenen Albee-Stücks Die Ziege oder Wer ist Sylvia?, in der die aberwitzig anmutende Liebe eines Ehemanns zu einer Ziege thematisiert wird, gehörte wegen vieler verstörender, jedoch extrem anregender und bewegender Aspekte zu ihren größten Erfolgen der letzten Jahre. Umso merkwürdiger, dass sich die sonst so rigoros auf substantielle, gesellschaftskritische Themen konzentrierende Regisseurin am Berliner Ensemble in diesen Tagen gerade auf das Blaue Spiegel– Experiment mit Albert Ostermeier (Text) eingelassen hat, um eine Art Blaubart-Fantasie zu inszenieren. Die in vierzig unruhigen, grell flackernden Märchenwald-Slideshow-Szenen sollten wohl offenbar noch die grellsten Show-Effekte einer RTL-Vorabendserie übertrumpfen.

Wahrscheinlich möchte die vielseitige Regisseurin damit demonstrieren, dass sie nicht nur das klassische Theaterfach oder Operninszenierungen meistern kann, sondern auch Lichtorgeleffekte arrangieren kann, während ein stringenter Plot kaum auszumachen ist. Wir wollen ihr die momentane Entgleisung jedoch verzeihen – diese beeindruckende Regisseurin hat inzwischen so überzeugende Inszenierungen produziert, sie ist außerdem so selbstkritisch, dass sie zu ihren wahren puristischen Qualitäten und werktreuen Umsetzungen bedeutender Dramatiker sicher bald zurückfinden dürfte. Klingt vielleicht etwas oberlehrerhaft, aber unter Puristen darf doch sicher auch mal Klartext gesprochen werden!?

Jedenfalls vermittelt dieser Band spannende, erhellende Einblicke in die Theaterwelt dieser Ausnahme-Künstlerin, er zeigt aber auch kritische Aspekte im deutschen Kulturbetrieb auf. In Wien, meint Andrea Breth, werde Theater noch als lebenswichtig empfunden, hierzulande jedoch nicht mehr. Kein Wunder also, dass sie eine permanente Rückkehr nach Deutschland vorerst ausgeschlossen hat.

Peter Münder

Andrea Breth: Frei für den Moment. Regietheater und Lebenskunst. Gespräche mit Irene Bazinger. Mit einem Vorwort von Daniel Barenboim. Berlin: Rotbuch Verlag 2009. 192 Seiten. 19,90 Euro