Geschrieben am 23. April 2006 von für Bücher, Crimemag

Andrea Maria Schenkel: Tannöd

Blutrausch

Andrea Maria Schenkel ist in „Tannöd“ dem unbezwingbar Bösen im Menschen auf der Spur und schafft in dörflicher Umgebung eine dichte und packende Atmosphäre.

Das hatte Niederbayern bis zu dieser Nacht im Februar 1922 noch nicht erlebt: Ein Massaker an sechs unschuldigen Menschen auf einem abgelegenen Bauernhof in der „Einöde Tannöd, Gemeinde Einhausen“. Ein authentischer Mordfall, vor dessen Hintergrund Andrea Maria Schenkel das beklemmende Porträt einer scheinbar ganz normalen Dorfgemeinschaft zeichnet. „Ein Debüt, ganz nah dran“, meinte die Jury der „KrimiWelt“ im März und katapultierte ihren Kriminalroman „Tannöd“ prompt auf Platz 1 ihrer Bestenliste.
Ganz nah dran ist vor allem der Leser, den die Erzählerin direkt in das „Morddorf“ hineinführt. Schenkel weist ihm dabei abwechselnd die Rolle des Zeugen oder Ermittlers zu. Lässt ihn dem namenlosen Täter bei seinen alltäglichen Verrichtungen über die Schulter schauen und den Dörflern zuhören, die ganz freimütig über das nicht wohlgelittene Oberhaupt der ermordeten Familie herziehen. Und natürlich über das berichten, was sie vor, während und nach der Mordnacht gesehen haben oder gesehen haben wollen. Und in welchem persönlichen Verhältnis sie zu den Außenseitern, der nur ein paar hundert Köpfe zählenden Gemeinde standen.

Inzest, Neid und Eifersucht

Von Seite zu Seite wird das Bild der Bauernfamilien, der Tat und den Opfern facettenreicher und schärfer. Zwischen Täterbeobachtung und Zeugenaussagen richtet die Autorin den Blick zudem auf die letzten Stunden der in einem Blutrausch Getöteten, die in unheilvollen Beziehungen zueinander und zu den anderen Dorfbewohnern standen. Inzest, Neid und Eifersucht nagen am ländlichen Sozialgeflecht, bis es schließlich zerreißt.
Die Debütantin weiß diese komplexe Erzählstruktur ebenso kunstvoll wie plausibel zu knüpfen. Dieser Struktur verdankt der Roman aber auch seine langsam anschwellende Spannung. Wie ein sommerliches Gewitter baut sich der Text auf. Von Ferne sieht man die dunklen Wolken auf sich zukommen. Erahnt die ungeheure Gewalt, die sich bald entladen wird und hofft auf die erlösende Wirkung des Regens. Doch die ist nicht von Dauer. Unwetter kehren immer wieder, weshalb der Mörder am Ende fatalistisch zu Protokoll gibt: „Der Dämon sitzt in jedem und jeder kann seinen Dämon jederzeit herauslassen.“ Ein Resümee, das so banal und grausam ist wie die Wirklichkeit.
Auf nur 128 Seiten ist alles gesagt. Ist enthüllt, was realiter nie aufgeklärt wurde. Fiktion und Wirklichkeit greifen unmerklich ineinander und schaffen eine ebenso dichte wie realistische Atmosphäre. Genau darum ist „Tannöd“mehr als ein Krimi, „Tannöd“ist ein kleines Meisterwerk.

Jörg von Bilavsky

Andrea Maria Schenkel: Tannöd. Kriminalroman. Edition Nautilus, Hamburg 2006. 128 Seiten. 12,90 Euro, ISBN: 3894014792