Geschrieben am 10. Oktober 2012 von für Bücher, Litmag

Ariel Magnus: Zwei lange Unterhosen der Marke Hering

Eine deutsch-brasilianische Lebensgeschichte

– „Es gibt reichlich Literatur von den und über die Überlebenden der nationalsozialistischen Vernichtungslager. Dieses Buch ist nicht aus dieser Literatur hervorgegangen und möchte ihr auch kein weiteres Werk hinzufügen“, erläutert Ariel Magnus zu Beginn von „Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“. Es beleuchtet das Thema auf eine ganz besondere, intime Weise. Von Doris Wieser

In der Tat zeichnet der Autor zwar die Lebensgeschichte seiner jüdischen Großmutter nach, die sich mit 22 Jahren auf der Suche nach ihrer blinden Mutter freiwillig ins Konzentrationslager Theresienstadt deportieren ließ, ihr später nach Auschwitz und bis in die Gaskammer gefolgt wäre, „wenn nicht die Nazis selbst sie daran gehindert hätten“, parallelisiert diese ungeordneten Erinnerungsbruchstücke aber mit der liebevoll-ironisch erzählten Geschichte über eine alte, etwas schrullige, bürgerlich-konservative Dame und ihrer Beziehung zu ihrem argentinischen Enkel Ariel (dem Erzähler, der hier nahezu deckungsgleich ist mit dem Autor). Oma Emma fand in Brasilien eine neue Heimat und besuchte den Erzähler/Autor 2001 in Heidelberg und 2004 in Berlin. Die gemeinsamen Besichtigungen des KaDeWe, des Jüdischen Museums, der Deutschen Welle, die Fahrten nach Dresden und Weimar und schließlich ins KZ Buchenwald werden begleitet von Ariels Versuchen, die Wirkung dieser Orte auf seine Oma auszuloten.

Obwohl Ariel Magnus (*1975 in Buenos Aires) diese wahrscheinlich ziemlich wahrheitsgetreue und doch im Detail fiktionalisierte Lebensgeschichte seiner Oma zunächst auf Spanisch verfasst hat und damit einen Teil der argentinischen sowie brasilianischen Einwanderungsgeschichte aufarbeitet (Silke Keelmann hat bei der Übersetzung auf die Tonbandaufnahmen mit dem deutschen O-Ton zurückgegriffen), scheint sich das einfühlsame Büchlein doch ebenso sehr an ein deutsches Publikum zu wenden, dem es anhand eines Einzelschicksals vorführt, wie eine in Auschwitz abgebrochene Biografie in Lateinamerika ihre Fortsetzung finden konnte und was unsere Länder unauflöslich miteinander verbindet.

Persönlicher Gruß

Zugegebenermaßen habe ich es weniger oder fast gar nicht in meiner Eigenschaft als Literaturwissenschaftlerin gelesen und deswegen seien mir hier auch ein paar subjektive Bemerkungen gestattet. Das Buch sprach mich von der ersten Seite auf einer ganz persönlichen Ebene an, auf der Ebene der geteilten Geschichte der Großeltern Ariels und meiner, die das Dritte Reich von der jeweils anderen Seite her erlebt haben und doch beide Opfer waren. Ariels Eltern sind beide deutschstämmig; er besuchte in Buenos Aires die deutsche Schule, studierte in Heidelberg (zur gleichen Zeit wie ich) und lebte danach in Berlin, verließ die Stadt jedoch wieder, bevor ich dorthin zog. Dennoch beschlich mich von Seite zu Seite das Gefühl, dass wir uns eigentlich kennen müssten, aus Heidelberg, von literarischen Veranstaltungen in Berlin oder über den gemeinsamen Freundeskreis, und es nur ein Zufall sein kann, dass wir uns bisher nicht begegnet sind, wahrscheinlich weil ich im entscheidenden Moment in Brasilien oder Argentinien war, er aber in Deutschland. Deswegen, lieber Ariel, wenn du das liest, sei herzlich und in aller Freundschaft gegrüßt.

Ariel Magnus

 Kuriositätenkabinett der Oma Emma

Das eigentlich Spannende an Oma Emmas Lebensgeschichte besteht nicht darin, was genau ihr in Theresienstadt und Auschwitz widerfahren ist (Schrecken, von denen wir alle wissen, die für meine Generation aber immer in gewisser Weise abstrakt, weil unfassbar, bleiben), sondern darin, wie sie ihr Leben trotz allem gemeistert hat, nach welchen Prinzipien sie lebt, wie sie mit der Vergangenheit umgeht und wie sie heute zu Deutschland steht. Nach 60 Jahren in Brasilien spricht sie immer noch nicht richtig Portugiesisch, hat es nur nebenbei auf der Straße gelernt, weil sie von Anfang an keine Zeit dazu hatte, sondern arbeiten musste. Im Umfeld deutscher Einwanderer kam sie schließlich auch ohne Portugiesisch zurecht. In Brasilien scheint ihr das niemand vorzuwerfen. Da sind wir Deutschen anders … Eine Deutsche will Oma Emma nie wieder sein, sie ist jetzt Brasilianerin und nur das. Ihre Zuneigung zu ihrem Geburtsland drückt sie dennoch durch eine Menge kleinerer und größerer Dinge aus. Fast schon klischeehaft steht die alte Dame auf deutsche Markenware: Sie schenkt zum Beispiel ihren drei in Deutschland lebenden Enkeln mit Vorliebe lange Unterhosen der deutsch-brasilianischen Marke Hering und lässt sich von ihnen dafür Reinigungsmittel für die Zahnprothese, Mottenpapier und Zeitschriften mit Kreuzworträtseln mitbringen. Alle paar Jahre fährt sie auf Kur in das Land, in dem sie geboren wurde, und ihr Geld hat sie auf der Deutschen Bank. Dass ihr jüngster Enkel mit einer Deutschen zusammenlebt, gefällt ihr trotzdem nicht, wo es doch so viele andere Nationalitäten gibt.

Die alte Dame verfügt über Eigenschaften, in denen ich nur zu gut meine eigenen Großeltern wiedererkannt habe. Der Erzähler begreift nach und nach, dass einige davon nicht spezifisch jüdisch sind, wie er glaubte, sondern eher deutsch. Dazu zählt das Sparen beim Telefon, Wasser und beim Geschenkpapier, das man mehrmals verwenden kann und deshalb beim Auspacken behutsam behandeln muss. Außerdem gehört es sich, von der Butter ein kleines Stück abzuschneiden, anstatt mit dem Messer etwas vom Rücken zu schaben. Und tatsächlich habe ich selbst erst auf meiner ersten Lateinamerikareise angefangen, die Butter zu schaben, weil es dort niemanden stört. Zu Hause wäre das nicht gegangen … Es sind diese kuriosen Details, die das Buch so sympathisch und lesenswert machen.

Emmas Vergangenheit begleitet sie bis heute: „Oma scheint an einem beständigen geistigen Schreckensort zu leben.“ Ihr Trauma zeigt sich unter anderem darin, dass sie immer mal wieder behauptet, den Juden sei passiert, was ihnen passiert sei, weil sie die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Ein Satz, den ein Goi niemals sagen dürfte, noch dazu ein deutscher. Aber sie hat sich dazu entschieden, weiterzuleben und kein Mitleid zu wollen. Die Summe ihrer recht einfachen und doch ungeheuer wirksamen Lebensweisheiten beruht darauf, in allem das Gute zu sehen (sie erinnert sich lieber an die Nazis, die ihr geholfen, als an die, die sie misshandelt haben) und Nächstenliebe als Pflicht zu begreifen, das heißt, immer zu helfen, wo man helfen kann. Menschen, die dieser Maxime zuwiderhandeln, verärgern und enttäuschen sie aufs Tiefste. Ihr Wille zur Versöhnung macht Oma Emma zu einer großen, im Herzen freien Frau: „Die Täter sind alle weg. Ihr könnt vergeben. Vergeben ja, vergessen nicht, verstehst du?“

 Mit Empathie und Witz erzählt

Ariel Magnus erzählt mit Empathie und Witz die Geschichte der emotionalen Annäherung seiner (und damit auch meiner) Generation an das Schicksal unserer Großeltern. Es gelingt ihm, einen Teil subjektiver und intersubjektiver Geschichte zu bewahren, der im Fall meiner Großeltern unwiederbringlich verloren ist. Bis zu seinem 80. Geburtstag füllten sich die Augen meines Opas, der 1944 22-jährig als Kriegsversehrter in sein Dorf zurückkam, mit Tränen, wenn er davon sprach, wie sein Bruder Heinrich in einem U-Boot im Atlantik versank. Aber die meisten seiner Kriegserfahrungen gab er nie preis, genauso wenig wie seine damaligen politischen Ansichten, die mir immer ein Rätsel bleiben werden.

„Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“ behandelt ein scheinbar abgegriffenes Thema auf eine sehr intime Weise und führt dadurch die Enkel des Holocausts in eine Erfahrungswelt ein, für die sie sich heute nicht mehr vorrangig interessieren, aber doch ab und zu interessieren sollten.

Doris Wieser

Ariel Magnus: Zwei lange Unterhosen der Marke Hering. Die erstaunliche Geschichte meiner Großmutter (La abuela, 2006). Aus dem Spanischen von Silke Keelmann. Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag 2012. 176 Seiten. 18,99 Euro. Bild: Urheber: Dontworry, Creative-Commons Lizenz 3.0, Wikipedia.

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