Geschrieben am 2. Juli 2009 von für Bücher, Litmag

Arjun Appadurai: Die Geographie des Zorns

Der globalisierte Zorn

Arjun Appadurai versucht, die neue Gewalt auf der Welt zu verstehen – jenseits hochspekulativer Terrorexpertisen. Von Carl Wilhelm Macke

Das waren noch Zeiten, damals im „Kalten Krieg“: Das Gute im Westen, das Böse im Osten, Washington gegen Moskau, Bonn gegen Pankow, die NATO gegen den Warschauer Pakt. Hier wie da wurde aufgerüstet – aber man wusste noch, wo der Feind saß, lauerte und drohte. Dann stürzte unter großem Jubel die Berliner Mauer, fiel der „Eiserne Vorhang“, lösten sich die kommunistischen Parteien auf. Der „Kalte Krieg“ war Geschichte.
Was folgte waren die Terrorangriffe des 11. September 2001 in New York, die Anschläge auf die Madrider Vorortzüge, das U-Bahn-Attentat von London, die Belagerung des Luxushotels in Mumbai – Terroranschläge rund um den Globus! Fast im Wochentakt.

Hier das Böse zu benennen und zu lokalisieren, war nicht mehr so einfach. Osama Bin Laden, das Al-Quaida-Netzwerk, die Taliban waren zwar für viele Gräueltaten verantwortlich, aber nicht für alle. Denn es bildeten sich überall neue Zellen der Gewalt. Mit und ohne Selbstmordattentäter.
Und vor allem: Man kann die Stützpunkte nicht mehr so einfach auf der Landkarte finden wie früher Militärkasernen. Und auch die Ursachen der Gewalt sind oft ebenso wenig zu bestimmen wie das Weltbild der Täter. Und so haben – bisweilen hochspekulative – Terrorexpertisen zurzeit Konjunktur.

Undurchdringliche Netzwerke und diffuse Gewalt

Den in Mumbai geborenen, heute in New York lehrenden Sozialwissenschaftler Arjun Appadurai könnte man zu diesen Experten zählen. Aber man bemerkt bald, dass seine Analysen der Gewalt doch sehr viel tiefer gehen als das Gros an tagesaktuellen Meinungen. Die Globalisierung, so eine seiner zentralen Thesen, habe zu einer fortschreitenden Abschmelzung klassischer nationalstaatlicher Grenzen geführt und zu einer Verunsicherung der Identität kleiner lokaler Gemeinschaften. Diese kleinen, durch gemeinsame Traditionen und Religionen geprägten Gemeinschaften entwickeln „neue Formen des Hasses, des Ethnozids und des Ideozids“.

Im letzten Jahrzehnt des 20. und im ersten des 21. Jahrhunderts lassen sich in vielen, oft vergessenen Ecken der Welt Ausbrüche extremen Zorns beobachten, die Appadurai als direkte oder indirekte Folgen der Globalisierung interpretiert. So z.B. die ethnischen Konflikte auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien, die heftigen kriegerischen Konfrontationen im Kaukasus, in Ruanda und in Indien, der Heimat des Autors.

Andere in diesem Zeitraum explodierende Formen der Gewalt sind mehr im Umfeld der „terroristischen Netzwerke“ zu lokalisieren, die sich vornehmlich gegen moderne Gesellschaftsideen amerikanischer Prägung richten. Eine dritte Form bildet sich innerhalb der urbanisierten Kultur der „Megacitys“: aggressive, diffuse Gewalt initiiert von Jugendbanden. Zur Erklärung dieses weiten Panoramas an Gewaltausbrüchen führt Appadurai neben den „Ethnoziden“ und „Ideoziden“ die Unterscheidung von „zellularem“ und „vertebralem“ System in die Diskussion ein: Die klassischen Nationalstaaten mit ihren gemeinsam akzeptierten Normen des Völker- und Kriegsrechts repräsentieren demnach eine traditionelle vertebrale Struktur, während sich im Zuge einer weiter fortschreitenden Globalisierung des Kapitalismus allmählich ein zellulares System verschiedener, nebeneinander bestehender Machtzentren herausbildet. In diesem zellförmig aufgelösten globalen Kapitalismus, so die These Appadurais, agieren terroristische Netzwerke wie Al-Quaida.

Intellektueller Reiz

Appadurais Versuch, ein Interpretationsraster für diese täglich durch die Medien präsentierte Gewalt in Kriegsgebieten wie in friedlichen Weltzonen zu liefern, hat seinen intellektuellen Reiz. Vieles spricht für die These des Autors, dass das Aufleben extrem fremdenfeindlicher und aggressiver Demagogen, Parteien und Gruppen eine Folge der Globalisierungsängste ist. Aber genügen zwei, drei Formeln, um alle Formen von Gewaltexzessen verstehen zu können? Auch die bei Appadurai immer wieder auftauchenden Anklagen gegen die katastrophale Weltsicht der Bush-Regierung sind im Übrigen durch den politischen Wechsel in den USA stumpf und hohl geworden.

Sehr gut und unbedingt lesenswert aber bleibt das den kleinen Band abschließende Kapitel über die „Graswurzelglobalisierung“. Auch wenn Appadurai hier vielleicht zu viele Erwartungen in die lebendigen und vielfältigen „Aktivisten-Netzwerke“ setzt, die sich „explizit in die großen Globalisierungsdebatten einmischen“, diese „Graswurzelglobalisierer“ stellen vermutlich die einzige Hoffnung dar, dass die pathologischen Momente der Globalisierung zurückgedrängt und die zivilen Versprechungen sichtbarer werden:
„Wir müssen darauf setzen, daß diese utopische Zellförmigkeit der Schauplatz künftiger Kämpfe sein wird. Sonst können wir getrost Abschied nehmen von der Figur des Zivilisten wie der Zivilität insgesamt.“

Carl Wilhelm Macke

Arjun Appadurai: Die Geographie des Zorns. Aus dem Englischen von Bettina Engels. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2009. 159 Seiten. 12 Euro.