Geschrieben am 29. August 2004 von für Bücher, Litmag

Augusten Burroughs: Krass

Ein Käfig voller Irrer

Mit „Krass“ liegt ein Roman vor, der in Sachen Abgedrehtheit der Charaktere und Situationen David Sedaris Konkurrenz machen könnte. Leider verbleibt der Roman Augusten Borroughs zu sehr im Episoden- und Karikaturhaften.

Eine angebliche Autobiographie, ein schwuler Ich-Erzähler, jede Menge abgedrehter Charaktere und absonderliche Erlebnisse – nein, es ist nicht die Rede von David Sedaris‘ „Nackt“, auch wenn der deutsche Titel von „Running with scissors“ lautmalerisch dessen Nähe sucht. Und das ist gar nicht mal so dumm, denn Sedaris-Fans werden an Augusten Burroughs‘ Roman ihre helle Freude haben.

Amerika in den Siebzigern: Augustens Mutter träumt von einer Karriere als Dichterin und lebt in ständigem Kampf mit ihrem gefühlskalten Mann, während der pubertierende Sohn in ihren Kleidern und schmuckbehängt von Glanz und Glamour träumt. Als gewalttätige Streits an der Tagesordnung sind, wird der Therapeut Dr. Finch hinzugezogen – doch damit fängt der Wahnsinn erst wirklich an.

Böser Witz

In einer wohlhabenden Gegend ist das Haus der Finches ein wahrer Schandfleck. Kakerlaken huschen in Scharen über Berge ungespülten Geschirrs, das Elektroschockgerät des Arztes ist Lieblingsspielzeug der Kinder und ein kleiner Junge namens Winnie the Pooh scheißt unter den Flügel. Lässt der erste Eindruck, den Augusten beim Betreten dieses Hauses erhält, bereits Schlimmes erahnen, so sollen seine Befürchtungen noch um ein Vielfaches übertroffen werden, wenn seine Mutter ihn mehr und mehr der Obhut der merkwürdigen Psychiaterfamilie überlässt. Und so lässt uns Burroughs teilhaben an denkwürdigen Straßenumzügen der Finches, exzessivem Hundekuchen- und Tablettenkonsum – und an seinem ersten Oralverkehr mit dem doppelt so alten Adoptivsohn von Dr. Finch.

Augusten Burroughs‘ „Krass“ ist voll gestopft mit zum Teil bösem Witz und wahrhaft einzigartigen Charakteren; doch in letzter Konsequenz bleibt der Roman in seinen Ansätzen stecken. Mehr wie in einer TV-Sitcom lässt Burroughs seine Figuren auf- und abtreten, schert sich kaum um eine stringente Geschichte, verweilt im Episodenhaften. So lassen seine durchaus originellen Figuren wahre Tiefe vermissen, werden sie – im Gegensatz zur kaum minder durchgeknallten Sedaris-Familie – nie zu Personen aus Fleisch und Blut.
Ein wenig Zurückhaltung in der Karikatur und ein bisschen mehr Sorgfalt in der Entwicklung der Story hätten einen Roman ergeben können, der auf intelligent-witzige Weise mit dem blinden Therapie-Glauben der Siebziger abgerechnet hätte. So ist „Krass“ leider höchstens ein – wenn auch unterhaltsamer – Pausenfüller bis zum nächsten Sedaris-Buch.

Frank Schorneck

Zitat:

„Seht ihr das?“, brüllte Finch und zeigte in die Kloschüssel. „Seht euch diesen gewaltigen Kringel an!“
Hope beugte sich weit vor, als hätte sie in einer Schmuckvitrine einen Verlobungsring entdeckt, den sie sich genauer ansehen wollte.
Ich guckte ihr über die Schulter.
Dann kam Agnes herbeigeschlurft. „Was soll denn der Lärm? Wieso drängelt ihr euch alle ins Badezimmer?“ Sie zwängte sich an uns vorbei und sah, dass wir in die Kloschüssel starrten. Ihr fiel die Kinnlade runter. „Was ist denn das hier?“
Finch bekam vor Aufregung einen roten Kopf. „Seht ihr es? Seht ihr, wie die Spitze aus dem Wasser ragt? Heiliger Vater!“
„Ja, Dad, ich sehe es. Sie zeigt senkrecht aus der Schüssel“, sagte Hope, stets die brave Tochter.
„Ganz genau“, dröhnte er. „Die Spitze zeigt nach oben.“ Er richtete sich auf. „Wisst Ihr, was das heißt?“
Agnes trat neben ihn und zog ihn am Arm. „Doktor, bitte“, sagte sie. „Bitte beruhige dich.“
„Agnes, hol mir einen Pfannenheber“, befahl er.

Augusten Burroughs: Krass. Deutsch von Volker Oldenburg. Rowohlt, Gebunden. 365 Seiten. 19,90 Euro.