Löwen wecken
– Es gibt Kriminalromane, auf denen steht einfach Roman drauf. Man soll sie nicht mit „Krimis“ verwechseln. Und das ist gut, wie das Beispiel von Ayelet Gundar-Goshens kapitalem Kriminalroman „Löwen wecken“ zeigt. Einer Rezension von Anne Kuhlmeyer.
Alles – den neuen Geländewagen, das spärliche Grün und Dr. Etan Griens Mitgefühl – bedeckt der Wüstenstaub Beer Shevas, der Stadt, in die Etan aus dem pulsierenden Tel Aviv verbannt wurde, weil er seinem Chef und Idol Korruption vorgeworfen hatte. Unter der weißen Schicht versteckt sich der Ekel, den Etan täglich mit auf die neurochirurgische Station nimmt, wohl wissend, wie unrecht den Kranken gegenüber dieser Überdruss ist. Zu viele Nachtdienste, zu viel Familienroutine, zu wenig Freiheit.
In einer mondhellen Nacht brettert Etan, berauscht vom Restadrenalin des Dienstes und Janis-Joplin-Songs, durch den Negev. Ein Ruck und plötzlich liegt ein Schwarzer mit aufgeplatztem Schädel sterbend im Sand. Im Begreifen der Katastrophe erwischt Etan der Schock, mit allen physiologischen Reaktionen. „Im ersten Moment konnte er nichts anderes denken, als dass er dringend kacken musste.“ (Es heißt nicht umsonst: „ich hab Schiss“ oder „mach dir nicht in die Hosen“.) Zwar zerlegt Gundar-Goshen Emotionen so akribisch, wie ein Computertomograf Körper in Schichten schneidet, aber sie beschränkt sich nicht auf die gesellschaftsfähigen (Herzerkrankungen z. B. sind gesellschaftsfähiger als ein Colontumor). Angst, Wut, Hass sind intensive, aber auch literaturtaugliche Gefühle, Ekel und Scham sind das eher nicht.
Angst und Scham
Getrieben von der Angst vor den Konsequenzen und der Scham über seine Unfähigkeit zu helfen, begeht Etan Fahrerflucht, nicht ohne Rechtfertigungsversuch, denn schließlich hatte der Flüchtling da nichts zu suchen, nachts im Negev. („Manchmal hörte er seine eigenen Gedanken und erschrak. Dann erinnerte er sich daran, dass er kein Rassist war.“) Seine Frau Liat muss er fragen, ob sie ihn für zynisch hält – eine sehr komische Szene.
„Infiltranten“ werden die genannt, die aus Eritrea, dem Sudan oder von sonst woher einwandern, viel zynischer geht’s kaum. Dummerweise sind nicht alle einzeln unterwegs. Die schöne Frau des Toten, Sirkit, erpresst Etan. Nachts muss er Wiedergutmachung leisten, wie er zunächst meint, indem er kranke Flüchtlinge behandelt. Kein blitzender OP, nicht saubere Neurone unterm Mikroskop, sondern Eiter, AIDS und Darminfekte in einer verlassenen Werkstatt. Für seine Kollegen erfindet er Ausreden und klaut Medikamente in der Klinik. Er belügt auch Liat, die als Ermittlerin den Fall des toten Eritreers nicht zu den Akten legen will, wie ihr Chef es verlangt. So zwanghaft sie ihr Haus putzt, um sich von ihrer sephardischen Herkunft zu reinigen, so zäh verfolgt sie den Fall, um nicht als rassistisch zu gelten, vor allem vor sich selbst nicht. Obwohl die Griens säkular leben, sitzen moralische Vorstellungen von Reinheit und Trennung in koscher und treife tief. Tragisch, wenn man sich selbst als nicht „rein“ genug versteht, weil man aus dem „falschen“ Stall kommt wie Liat. Die Ehe mit Etan hat ihr zumindest einen aschkenasischen, also „richtigen“, Nachnamen verschafft.
Unreinheit
Ihre überhöhten moralischen Standards sind es auch, die Etan und Liat zu Lüge und Zwang bewegen, die jeweils mit Scham bestraft werden. Genau und plausibel erzählt Gundar-Goshen, wie das quälende Gefühl abgewehrt, verschoben und projiziert wird, auf die Flüchtlinge z. B. (Die „Unreinheit“ wird immer dem Fremden unterstellt.). Interessant dabei ist, dass auch Sirkit, die Witwe, und die jungen Beduinen, die, gedemütigt durch die weiße israelische Gesellschaft sich in Drogengeschäfte verstricken, von Scham gebeutelt sind. Das Gefühl scheint ubiquitär zu sein, wie es eben für weniger individualisierte Gesellschaften als unsere westlichen, in denen eher Schuld eine Rolle spielt, typisch ist. Aber das ist eine problematische Projektion (dazu siehe Hans Peter Dürr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß).
Dabei kann man die Bedeutung der Scham als sozial stabilisierend verstehen. Übertritt ein Gruppenmitglied eine moralische Grenze, stellt es mittels Scham sicher, dass es in der Gruppe bleiben darf, was ihm, denkt man die Notwendigkeit sozialer Gemeinschaften zu Ende, das Überleben sichert. Ausgenommen davon ist natürlich die selbstzerstörerische „toxische“ Scham. Nicht ganz klar ist, ob dieser Aspekt des Romans von der Autorin absichtsvoll dargestellt wurde oder hineingeraten ist, weil sie selbst Mitglied der Gesellschaft ist.

Poetisch ins Chaos
In poetischen Bildern erzählt Gundar-Goshen, wie Vorurteil, Lüge und kulturelle Tünche ins Chaos führen. Neben einfühlsame Analysen setzt sie drastische Szenen von Krankheit, Gewalt und Tod in Abwesenheit der Liebe als integratives Element. Die Liebe wird entromantisiert. Etan begehrt seine Erpresserin, während Sirkit sich zum Mörder ihres Mannes hingezogen fühlt, nicht nur, weil er so ein toller Typ ist, sondern auch, weil er etwas hat, das sie braucht – das Ticket in die Freiheit, während sie etwas hat, Macht, das er benötigt. Schließlich ergibt sich Liebe immer aus etwas, das der eine hat und der andere nicht, andernfalls kämen wir auch ohne sie klar.
So also ist der Roman, auf dem „Roman“ drauf steht, der aber feinste Kriminalliteratur ist, zum einen ein Sittenbild der israelischen Gesellschaft und zum anderen eine Reise in die Innenwelt Einzelner, die von dem „Bösen“ darin überrascht sind und davon, wie fragil ihre Sicherheiten werden, wenn Gewalt und Tod ihre Moral im Handeln herausfordern.
Anne Kuhlmeyer
Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken (Leha’ir Arajot, 2014). Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama Zürich. Berlin: Kein & Aber 2015. Seiten 432. 22,90 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autorin.
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