Das andere Gesicht Afrikas
– Ein sehr untypisches Afrika-Buch hat Bettina Gaus geschrieben. Mehrere Monate lang war sie allein und vorwiegend auf dem Landweg durch 16 afrikanische Länder unterwegs, um sich ein Bild von der Mittelschicht des Kontinents zu machen. Keine marodierenden Militärs, hungernde Kinder oder korrupte Eliten. Keine Überfälle, Giftschlangen oder Entwicklungshelfer. Sie hatte nicht einmal Malaria. Diese Reisereportage ist ziemlich unspektakulär. Von Lena Blaudez
Was keinesfalls mit uninteressant zu verwechseln ist. Gaus verzichtet auf die hinlänglich bekannten Afrika-Klischees – tatsächlich leben 95 Prozent der Bevölkerung NICHT in einer Kriegs- oder Krisenregion. Sie lässt Anwälte, Angestellte, Unternehmer, Lehrer und Journalisten zu Wort kommen. Die afrikanische Mittelschicht eben, deren Wünsche und Ziele nicht so verschieden sind von denen der hiesigen: Ein möglichst sorgloses Leben, ein gesichertes Einkommen und eine gute Ausbildung für die Kinder.
Viel extremer als in Europa sind jedoch die Risiken, durch Krankheit oder Jobverlust abzustürzen. Überhaupt ist die Frage nach Armut immer eine Frage der Perspektive und des Umfelds, schreibt Bettina Gaus. Eine Lebenssituation, die man in Deutschland als prekär betrachtet, ist in Mosambik durchaus eine solide Mittelschichtexistenz. Zur Mittelschicht zu gehören bedeutet in erster Linie, ein hohes Maß an Autonomie über die Gestaltung des eigenen Lebens zu besitzen. Die meisten Gesprächspartner von Gaus schätzen das für sich so ein.
Die Reportage stellt ganz unterschiedliche Lebensgeschichten vor: So wie die der eindrucksvollen Chileshe Mwiko aus Sambia, die sich aus schweren familiären Verhältnissen über Abendkurse bis zum Universitätsabschluss durchkämpfte, dann Chefin des kommunalen Gesundheitsdiensts der Bergarbeiterstadt Kitwe mit einer halben Millionen Einwohnern wurde und jetzt in den Niederlanden promoviert. Alles aus eigener Kraft.
Oder die Geschichte von Suleiman Sow aus Burkina Faso, der sich trotz erheblicher finanzieller Probleme seinen Traum einer Firma zur Installation von Solaranlagen erfüllen konnte und ein Netz von solarbetriebenen Ladestationen für Handys und Lampen aufbaute.
Bei solchen beispielhaften Biografien werden auch die enormen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern Afrikas deutlich, die sonst in unserer öffentlichen Wahrnehmung oft über einen Kamm geschoren werden.
Komplexität im Blick
Immer spürt man die sympathisierende Haltung der Reisenden, die mit offenen Augen und ohne Vorbehalte ihren Gesprächspartnern die Deutung und Analyse überlässt und sich auch mit eigenen Irrtümern oder Fehleinschätzungen auseinandersetzt. Der Blick ist ganz persönlich, gemischt mit Erinnerungen und Erfahrungen früherer Aufenthalte. Eingestreut werden politische Informationen über die einzelnen Länder, die Gaus prägnant auf den Punkt bringt.
Sie verschließt auch keinesfalls die Augen vor den enormen Problemen, wie den Auswirkungen der Privatisierung und dem hohen Anteil der Bevölkerung, der im informellen Sektor sein Auskommen suchen muss, dem Ressourcenraubbau oder etwa den katastrophalen Investitionen von Tchibo in Tansania, die für die Kaffee-Kleinbauern existenzgefährdende Folgen haben. Dabei ist Gaus meist zurückhaltend im Urteil und hat eher die Komplexität der Probleme im Blick. Allerdings kam auch ihr, unterwegs mit US-Wahlbeobachtern in der angolanischen Hauptstadt Luanda, der Glaube an die Kompetenz von Entscheidungsträgern abhanden.
Mittelschicht stabilisiert Kontinent
Das enorme Engagement, das viele Frauen zeigen, die eigenen und die dazu noch oft angenommenen Kinder durchzubringen, ist ein Beispiel unter vielen, mit denen Bettina Gaus der immer wieder vorgebrachten Plattitüde widerspricht, dass Afrikaner nicht „die Verantwortung“ für ihre Situation übernähmen. Die Mittelschicht, so Gaus, sei die Gruppe der Bevölkerung, die den Kontinent stabilisiere. Wobei das Koordinatensystem sehr spezifisch und eigen geworden ist – weg von der europäischen Sicht. Als Zeichen der fortgeschrittenen Demokratisierung hat die Reporterin beobachtet, dass sich Leute bei Diskussionen kaum mehr ängstlich umblickten. Das lässt hoffen.
Durch die Lebensgeschichten, die in eine Art literarisches Reisetagebuch verwoben sind, entwickelt das Buch einen leisen Sog. Es ist ganz unspektakulär und untypisch – und man möchte immer noch weiter lesen.
Lena Blaudez
Bettina Gaus: Der unterschätzte Kontinent. Reise zur Mittelschicht Afrikas. Frankfurt: Eichborn Verlag 2011. 252 Seiten. 19,95 Euro. Zur Verlagshomepage.