Zwei Freundinnen und die Liebe zum Kontinent der Philosophie
Alf Mayer über die Nietzsche-Biografie „Ich bin Dynamit“ von Birgit Lahann und Ute Mahler
Was für ein Buch. Hinreißend geistreich und munter unterwegs, spannend und anschaulich, poetisch und klug, ungekünstelt und doch von höchster Kunst. Eine ungewöhnliche Reise durch Europa, Ideengebäude inklusive. Die Autorinnen: zwei Frauen auf der Höhe ihrer Kräfte, ein wunderbares Werk. Mit 200 schlanken Seiten ein Meisterwerk der Verknappung, überaus lesenswert und sehr anregend.
Zum Schluss erst, auf der letzten Seite, zeigen sie sich, klein und bescheiden: Birgit Lahann , die Journalistin und langjährige „stern“-Autorin, und Ute Mahler, Foto-Professorin und Mitbegründerin von „OSTKREUZ – Agentur der Fotografen“.
Cool und unaufgeregt, als würden sie einen alten Freund besuchen, dessen Stärken und Schwächen und Eigenheiten man kennt und mag und schätzt und duldet, nehmen sie es mit Friedrich Wilhelm Nietzsche auf, räumen mit manchem Vorurteil auf, mit so mancher Legende. Sie haben nicht nur nachgelesen, sie sind dem Dichter und Philosophen, dem Einzel- und Wünschelrutengänger tatsächlich nachgereist. Sie waren in Röcken und Naumburg, Schulpforta, Weimar, Venedig, Nizza, Rom, Neapel und Turin, fuhren über den Julierpass nach Sils Maria.
Ein Mann umarmt ein Pferd und weint
Das Buch beginnt mit dem großartigen Satz: „Ein Mann umarmt ein Pferd und weint.“ Turin, im Dezember 1888, als Nietzsche mit 44 Jahren wahnsinnig wird. Seine Botschaft dafür an den Freund Franz Overbeck in Basel: „Ich lasse eben alle Antisemiten erschießen – gezeichnet Dionysos.“ Die 23 weiteren Kapitel führen dann – auf sympathische Weise ganz nahe an ihren Protagonisten angelehnt, angenehm lässig (oder weiblich?) aber auch distanziert – durch Nietzsches Lebens- und Geistesweg, immer im Präsens, als ginge uns das alles immer noch etwas an. Und das tut es auch.
Ganz wunderbar geschrieben, erwächst uns hier ein Nietzsche, den man kennen und mögen will. Ein Europäer, ein Freiheitsgeist, ein Ungebeugter. Schwächen und Irrungen inklusive.
Seit ich des Suchens müde ward;
Erlernte ich das Finden.
Seit mir ein Wind hielt Widerpart,
Seg’l ich mit allen Winden.
Ute Mahlers Bilder – keine kleine Tat – ergänzen den wunderbaren Text Birgit Lahanns auf angenehmste Weise. In dieses Buch kehrt man gerne wieder zurück, es ist wie ein Garten, durch den man gerne wandeln will. Und immer wieder entlocken die Autorinnen sowohl Nietzsche als auch uns ein Lächeln. Da ist jener Droschkenkutscher vor dem Pantheon in Rom, der „etwas“ aufkehrt, da ist ein gähnender Schäferhund vor dem Rolandsbogen in Remagen, da schaut ein maskierter Junge aus einem Autofenster. Auch für, den kleinen Rächer, gibt es als Bildtext ein ausgesuchtes Nietzsche-Zitat:
„Ich mache so viele dumme Possen mit
mir selbst, dass ich mitunter eine halbe
Stunde auf offener Straße grinse, ich weiß
kein anderes Wort.“
Birgit Lahann (Text) / Ute Mahler (Fotografien): Nietzsche. Ich bin Dynamit. Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2017. Hardcover, über 40 Fotografien. 200 Seiten, 24,90 Euro. Verlagsinformationen.
PS: Der Buchtitel stammt aus „Ecce Homo, Warum ich ein Schicksal bin“, und lautet vollständig:
„Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. – Und mit alledem ist nichts in mir von einem Religionsstifter – Religionen sind Pöbel-Affären, ich habe nötig, mir die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen… Ich willkeine »Gläubigen«, ich denke, ich bin zu boshaft dazu, um an mich selbst zu glauben, ich rede niemals zu Massen… Ich habe eine erschreckliche Angst davor, daß man mich eines Tags heiligspricht… Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst… Vielleicht bin ich ein Hanswurst… Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem – denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige – redet aus mir die Wahrheit …“