Bloody Chops im Januar 2017
Zerteilt und präsentiert von: Alf Mayer, Susanne Saygin, Thomas Wörtche.
Über: Ricardo Adolfo, Brigitte Glaser, Peter F. Hamilton, Walter Hill, Matz, Jef; Charly Weller.
Bizarr & versöhnlich
(TW) Portugal immerhin hat sein Buch zur Finanzkrise und den sozialen Verwüstungen, die in Südeuropa endemisch sind: Maria von den abgesägten Gewehrläufen (A1 Verlag) von Ricardo Adolfo. Der aus Angola stammende Autor (für junge Menschen: Angola war bis zur portugiesischen „Nelkenrevolution“ 1974 portugiesische Kolonie) inszeniert die Geschichte von Maria, einer ins Prekariat abgestürzten jungen Frau, in den unschönen Suburbs von Lissabon, die sich entschließt, dem Wahnsinn der Welt mit ihrer Schrotflinte zu begegnen, literarisch als komische Groteske, deren sprachliche Ausgefeiltheit die Übersetzung von Barbara Mesquita wunderbar transportiert. Konventionell ist da gar nichts, Adolfo erklärt nichts, er lässt Marias E-Mails reden.
Und so entsteht ein bizarrer Kosmos aus Gewalt, Verbrechen, miesem Sex und Drogen, dessen Ursachen – Gier und Profitstreben und der Wunsch, all dem zu entkommen – klar zu erkennen sind. Aber der Roman ist keine Dystopie, sondern hat seine hellen, seine komischen und liebevollen Elemente, die allerdings weder versöhnlich sind noch naiv, sondern sozusagen produktiv und kreativ bissig, kratzbürstig und radikal – und sei´s auf die Macht der Schrotflinte gestützt. Gehörte in einer besseren Welt auf jede Best-of-Liste.
Ricardo Adolfo: Maria von den abgbesägten Gewehrläufen. Roman, A1-Verlag 2016, Dt.: Barbara Mesquita, 192 Seiten, 18,80 Euro
Ballefussi interrupti
(AM) Den Dreh hat er raus. So kann das eine formidable Serie werden. Charly Weller, eigentlich ein Film- und Fernsehregisseur, bei „Die Kommissarin“ einst Til Schweiger als Assistenten von Hannelore Elsner ins Bild gesetzt, am „Fall für Zwei“ gearbeitet, als Kleines Fernsehspiel „Wetzlar ist nicht Washington“ gemacht und für den Kurzfilm „The Only Forgotten Take of Casablanca“ den Jury-Preis von Cannes errungen, hat einen Lauf mit seinem Kommissar Roman Worschtfett, pardon Worstedt. Worschtfett dürfen ihn nur die Einheimischen nennen, vorzugsweise jene Gießener, die „Manisch“ sprechen. Hierbei handelt es sich um die Überreste einer mittelalterlichen Räubersprache jenisch-rotwelschen Ursprungs, also um ein Verständigungsidiom unter Bettlern, fahrendem Volk und kriminellen Subkulturen. Irgendwann auch von Schaustellern übernommen, erkennt man das Manische daran, dass der Ton von einer gewissen nasalen Atemnot unterlegt ist und die „Os“ lang gezogen werden.
Erst einmal aber gibt es ein „Iiih“ und schon im Prolog wird vorm „Katzenkönig“ gewarnt, bei dessen Anblick man nur kehrtmachen und die Kurve kratzen könne. Das zweite „Iihh“ fällt beim Anblick einer in einem Koffer transportierten, zerstückelten Leiche. Ihr Fund beschert Kommissar Worschtfett ein „Ballefussi interrupti“, worunter man einen gestörten Frisörbesuch verstehen muss. Immer an den Klippen von Verstehen, Erfahren, unnützem und/oder schrägem Wissen entlang und aus unterschiedlichen Perspektiven, Zeugenaussagen sozusagen, führt der nun schon dritte Fall dieses Mal nach Wien, was das bisher (in „Eulenkopf“ und „Finsterloh“) erkundete Mittelhessen noch an bizarren Elementen zu übertreffen vermag. Man könnte auch sagen, um das Niveau seiner ersten beiden Krimis zu halten, musste Wien als Spielplatz her. Mal sehen, wohin es den (einen Kriminellen im Buch eher „an einen in die Jahre gekommenen Rapper erinnernden“) Kommissar Worschtfett noch verschlägt.
Charly Weller hat erkennbar Spaß, allerlei Seltsames aufzutischen, starken Tobak inbegriffen. Nebenbei erfahren wir auch, welche filmischen Fehler es im „Dritten Mann“ zu finden gibt. Vor allem aber knistert ein Feuerwerk an Details und Einfällen, bizarren Schicksalen und Verhaltensweisen. Groteske trifft IS, Sexspiele der Provinz und Neureichenvillen, den Heurigen, einen Wienerliedsänger und die Schaustellerei im Wiener Prater. Die Kriminalliteratur wird hier nicht neu erfunden, aber auf eine handfeste und bodenständige Art aufgemischt. Charly Weller ist ein Sinnesmensch, das teilt sich mit. Und wie die Leiche aus Wien nach Gießen gelangt ist, das hat echten Pfiff. Ich musste an den chinesischen Noir „Feuerwerk am helllichten Tag“ von Yinan Diao denken. Ein Glossar manischer und österreichischer Begriffe gibt es im Anhang.
Charly Weller: Katzenkönig. KBW Verlag, Hillesheim 2016. 280 Seiten, 10,95 Euro.
Krimi mit Abenteuer, Politthrill & Sience Fiction? Geht!
(TW) In Newcastle upon Tyne wird eine Leiche aus dem Fluss gezogen. Ermordet wurde der Mann mit einem nicht identifizieren Werkzeug, das den Körper regelrecht von innen zerfetzt hat. Detective Sidney Hurst und seine Crew nehmen die Ermittlungen auf, aber bald mischt sich die ganz große Politik ein. So beginnt ganz klassisch, ganz konventionell Der unsichtbare Killer von Peter F. Hamilton, ein 1133 Seiten (!) langes Epos, das kein vernünftig-pragmatischer Rezensent zu lesen sich eigentlich leisten dürfte. Und schon gar nicht einer von Kriminalliteratur.
Denn Der unsichtbare Killer ist deutlich Science Fiction. Wir befinden uns im Jahr 2143, die Menschheit kann sich „transräumlich“ durch sogenannte „Gateways“ auf ferne Planeten bewegen, die ihrerseits wertvolle Rohstoffe liefern. Die ökonomisch herrschende Klasse – die Familie North – reproduziert sich hauptsächlich durch Klonierung (weswegen man auch nicht genau weiß, wer der Tote aus dem Fluss ist) und der Killer ist nicht unbedingt ein Mensch. Hamilton fährt so ziemlich alles auf, was den SF-Leser erfreut: Elemente der klassischen SF, fremde Welten, fremde Biosphären, Aliens, futuristisches Gerät und HighTech, alles sorgfältig ausgepinselt – ein artifizielles Universum wie von Jack Vance, ohne allerdings zu aufdringlich mit physikalischen Details zu nerven.
Aber das ist längst nicht alles, was Hamilton an Hybrid-Elementen zu bieten hat: Abenteuerroman (Expedition in unbekannte Dschungelgegenden), Polit-Thriller mit feinen Intrigen und Gegenintrigen, Undercover-Operationen, Mystery. Und siehe: Es funktioniert prächtig. Außerdem kann man in ein solches Epos auch eine Menge nicht allzu oberflächliche behandelte Themen packen: Ökologie und Ökonomie, das technische Machbare und das ethisch Verantwortbare, die sozialen und politischen Implikationen von Fortschritt, Theologie angesichts nicht-menschlichen Lebens. Und natürlich jede Menge Action, fieses Denken und suspense.
Im Grunde ist es egal, ob wir es mit einem futuristischen Kriminalroman zu tun haben (Hamilton hatte da mit seiner „Mind Star“-Trilogie schon Maßstäbe gesetzt, ähnlich wie Autoren wie Stanisław Lem, Harry Harrison oder Richard Morgan, eine lange Tradition auf jeden Fall) oder mit SF cum crimen. Wenn die „Zeichenoperationen“ wie hier gelungen sind, spielen Realitäten in solchen Fällen keine Rolle. Spannend und großartig.
Peter F. Hamilton: Der unsichtbare Killer, Roman, Bastei Lübbe 2016, Dt.: Michael Neuhaus, 1136 Seiten, 10,00 Euro
Schwarzwaldmädel mit Knarren
(sy) Die Heimatfilme der 1950er waren schlicht gestrickt: Unschuldige Liebesirrungen wurden quer durch alle Alters- und Gesellschaftsschichten angezettelt und im Laufe der Handlung entwirrt, bis am glücklichen Ende jeder Topf seinen qua Habitus und/oder Penunzen passenden Deckel gefunden hatte. Das Ganze gerne im Ambiente von besseren Hotels oder Landgasthöfen, immer aber vor unzerstörter Naturkulisse (Alpen! Heide! Bodensee!).
Bühlerhöhe von Brigitte Glaser spielt souverän mit diesen Klischees. Der Roman führt uns in den Schwarzwald des Hochsommers 1952. Die Handlung bewegt sich im wesentlichen zwischen dem Nobelhotel „Bühlerhöhe“ und einem benachbarten Gasthof. Zum Personal gehören eine rehäugige Heldin, die man sich wie Sonja Ziemann vorstellen mag, zudem ein zurückgezogener VIP, eine geltungssüchtige Hausdame, eine Handvoll zwielichtiger Geschäftsmänner und ein Schwarzwaldmädel samt Geierwalliger Schwester. Es gibt zwei Tote und zum Schluss so etwas wie ein Happy End.
Trotzdem ist Bühlerhöhe mitnichten ein Schwarzwald-Cozy, denn zwischen Technicolor-Panoramen und launige Hotelintrigen flicht Brigitte Glaser fast immer mit leichter Hand Themen wie Kriegsverbrechen, Kollaboration, Arisierung und die Wiederaufrüstung der BRD ein. Dementsprechend heißt der VIP denn auch Konrad Adenauer und die rehäugige Heldin ist eine heimwehkranke Emigrantin. Rosa Silbermann hat ihre Familie im Holocaust verloren; jetzt kehrt sie im Auftrag des Mossad aus Palästina nach Deutschland zurück, um einen Anschlag auf Adenauer zu verhindern und so den Abschluss des umstrittenen deutsch-israelischen Wiedergutmachungsabkommens sicherzustellen.
Das mag klingen wie Bundeszentrale für Politische Bildung meets Bollenhut, tatsächlich ist Bühlerhöhe aber ein gut erzählter und solide recherchierter Spannungsroman zu Themen, an die sich sonst allenfalls die Hochliteratur heranwagt. Chapeau!
Brigitte Glaser: Bühlerhöhe. List Verlag, Berlin 2016. 448 Seiten, 20,00 Euro. Verlagsinformationen.
Toys for Boys
(TW) Tomboy von Walter Hill, Matz und Zeichner Jef ist, wie nach „Querschläger“ vom selben Trio zu erwarten, ein Action-Comic vom Feinsten. Standard und Variation: Frank Kitchen ist ein topisch grüblerischer Killer, der topisch von seinem Auftraggeber gelinkt und niedergeschossen wird. Tot ist er nicht, also wird er sich topisch auf einen Rachefeldzug begeben. Variation: Als Frank nach seiner schweren Verwundung erwacht, stellt er fest, dass man ihn irreversibel zu einer Frau umgewandelt hat. Das Schnipselwerk hat eine irre Ärztin veranstaltet, um sich ihrerseits an Frank zu rächen, der als ganz normalen Job seinerzeit ihren Bruder erschossen hatte. Dass die Ärztin ein bisschen wie Sigourney Weaver aussieht, ist kein Zufall, denn Tomboy wird gerade mit ihr und Michelle Rodriguez verfilmt.
Womit wir bei Walter Hill wären, auf dessen Drehbuchentwurf das von ihm und Matz verantwortete Szenario beruht. Hill hat ein paar bahnbrechende Action-Filme gedreht, darunter „Driver“ und die böse zynische Yojimbo-Variante „Last Man Standing“. Das färbt natürlich auf Schönste auf den Comic ab, auf seinen Drive, auf seine Erzählstruktur. Die brillanten Bilder von Jef setzen durch ihre Stimmungen, ihre Dynamik und ihre Rhythmisierung all das um, und haben dennoch oft ihre eigene Signifikanz.
Bei so viel autonomer Ästhetik stört die, sagen wir, mittlere Komplexität der Handlung nicht besonders. Je nach point-of-view kann man sich natürlich fragen, ob die Geschlechtsumwandlung eines Killers zu einer Frau, jetzt der Ausbund an Gemeinheit ist (was könnte schlimmer sein, als eine Frau zu sein?) oder ein netter Gag, um mit Rollenmodellen herumzuspielen, zumal Frank sein Frau-Sein freudig nutzt, um üble Frauenfeinde und Muchomachos aus dem Weg zu räumen.
Dass Frauen genauso gute Killer sein können wie Männer, ist natürlich inzwischen auch schon topisch und eher unter Standard zu verbuchen. Tomboy fällt vermutlich unter toys-for-boys, was dem Vergnügen an der Lektüre nicht den geringsten Abbruch tut.
Walter Hill, Jef Matz: Tomboy. Comic. Splitter-Verlag 2016, 128 Seiten, 24,80 Euro