Die Kehrseiten des großen Traums
Brady Udalls originelle Short-Stories aus den Einöden des amerikanischen Südwestens. Von Markus Kuhn
Erinnern Sie sich an die US-Präsidentenwahl? Da gab es diese Amerika-Karten mit roten, blauen und grauen Bundesstaaten. Die blauen waren die, die zu Kerry tendierten, die grauen die „Swing-States“, in denen alles offen war und die roten diejenigen, die rettungslos an George Bush verfallen waren.
Es sind einige dieser roten „Bush-States“, in denen Brady Udalls Geschichten spielen. In den elf originellen Short-Stories, die in „Laß die Hunde los“ versammelt sind, blickt Udall in die gesellschaftlichen Abgründe, die sich jenseits des gottesfürchtigen Bürgertums im kargen amerikanischen Südwesten auftun. Im Mittelpunkt stehen die einfachen Leute, die Verlierer und Zukurzgekommenen der konservativen Gesellschaftspolitik. Skurrile, vom Leben benachteiligte Loser aus Utah oder Arizona, deren Stimmen sonst selten vernommen werden.
Das Prinzip von Udalls Stories ist so einfach wie effektiv: Erst lässt er den Leser schmunzeln, dann macht er ihm Angst. Denn das leichte, ironisch-humorvolle Erzählen, das den Leser sehr schnell einwickelt, täuscht. Harmlos ist hier nichts. Von Seite zu Seite wird sie spürbarer, die existentielle Ausweglosigkeit, in der die Figuren gefangen sind – oft ohne es selbst zu merken.
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Aber trotz einer derart bedrückenden Weltsicht ist Udalls bissiger Sarkasmus niemals nihilistisch: Irgendwo schimmert immer etwas Hoffnung durch, manchmal gibt es gar ein Happy-End. Udalls Figuren sind zwar Versager, aber irgendwo auch sympathisch. Da ist zum Beispiel Jerry, ein „drei viertel Apache“, der seine Verwandten im Reservoir verlassen, nie das Leben eines Apachen gelebt und stattdessen eine Weiße geheiratet hat. Diese hat ihn nun verlassen, um mit einem reichen Rancher zusammenzuleben, der sein Geld für Rechtsanwälte rauswirft, „die die geheimnisvolle Fähigkeit besitzen, das Gesetzt so zu verdrehen, dass ein Vater nicht einmal mehr seinen eigenen Sohn sehen darf“.
Um diesem Sohn sein sehnlichst gewünschtes Lieblingshaustier aller Verbote zum Trotz ins Zimmer zu bringen, muss Jerry in die Villa einbrechen, den Hausherren zu Boden schlagen und dessen Hund klauen. Trotzdem kann man Jerry nicht verurteilen – zu viel weiß man über ihn. Aber: unschuldig ist auch Jerry keineswegs. Und genau das ist eine der Qualitäten von Udalls Geschichten: Niemals wird eindeutig Stellung bezogen. Die Figuren und ihre Beziehungen bleiben komplex und kompliziert – wie im wirklichen Leben.
Kehrseite des American Dream
Kaputte Lebensträume und verzweifelte Verlusterfahrungen – im Aufzeigen der Kehrseiten des amerikanischen Traums ist Udall in der amerikanischen Literatur in bester Gesellschaft. Aber während zum Beispiel Raymond Carver das private Zwiegespräch zum Mittelpunkt seiner lakonischen Alltagsskizzen macht, sucht Udall das große, aufregende Ereignis und schreckt dabei selbst vor krassen Momenten nicht zurück. Wenn die von ihren Frauen verlassenen Versager Custer und Goody in der Story „Bluthunde“ Custers ausgehungerte Kampfhund-Meute mit einem Hemd des neuen Liebhabers von Custers Frau scharf machen und in die Dunkelheit treiben, wo besagter Liebhaber Pilze sammelt, sind Grauen und Grausamkeit erschreckend präsent.
Aber trotz solcher Effekte bleibt Udalls Erzählweise realistisch. Mit seinem Talent, Figuren auf wenigen Seiten höchstlebendig werden zu lassen, zählt Udall zu den talentiertesten Jungschriftstellern Amerikas. Durch einen Blick auf das Amerika jenseits der schillernden Metropolen bereichert er die genuin amerikanische Gattung der Short-Story um eine interessante thematische Facette. Und vielleicht versteht der Leser etwas mehr über dieses große Land, dessen Provinz so erstaunlich anders tickt, als seine auf internationaler Bühne agierenden Politiker ahnen lassen.
Markus Kuhn
Brady Udall: Laß die Hunde los.
Short Stories. Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Hübner.
Deutsche Verlags-Anstalt. 2004.
Geb. 249 S. 18,90 Euro.
ISBN: 3-421-05139-9
07.03.2005