Der Wurstler
Ist es der Hass auf Literatur oder auf das Leben, das einen Menschen zum Brandstifter werden lässt. Clarkes „Leitfaden zum Abfackeln von Schriftsteller-Residenzen“ weiß auf beides keine richtige Antwort. Von Jörg von Bilavsky
Wenn der liebenswürdig schrullige, mitunter exzentrische Harry Rowohlt ein Buch übersetzt, dann muss es ein außergewöhnliches sein. Zumindest ein außergewöhnlich Schräges. Denken wir nur an die herrlich grotesken Werke Flann O’Briens, Robert Crumbs oder David Sedaris’, die der Sohn des Verlegers Ernst Rowohlt entdeckt und ins Deutsche übertragen hat. Brock Clarkes „Leitfaden“ ist vielleicht stilistisch eine Entdeckung, aber inhaltlich eine Enttäuschung. Keine Frage, der Titel lockt die Liebhaber absurder Literatur sofort an. Und man fragt sich sofort, was den „wurstelnden“ Titelhelden in jungen Jahren dazu veranlasst haben mag, das Haus der amerikanischen Poetin Emily Dickinson niederzubrennen. Der Hass auf ihre schwer verständlichen und schwer einzuordnenden Gedichte? Oder ist das Motiv des Brandstifters banaler? Ja, das ist es. Denn Sam Pulsifer hat ganz aus „Versehen“ die Residenz dieser Schriftstellerin abgefackelt und mit dem Gebäude gleich noch ein Pärchen.
Und für dieses „Missgeschick“ muss Sam lebenslang büßen: im Gefängnis wie in der vermeintlichen Freiheit. Denn als er aus der Haft entlassen wird und eine brave Familie mit zwei Kindern hat, gehen abermals Dichterhäuser in Flammen auf. Die Liebhaber von Mark Twain, Robert Frost und Edward Bellamy verlieren ihre literarischen Pilgerstätten und Sam langsam wieder den Boden unter den Füßen. Denn alle verdächtigen natürlich wieder ihn. Einmal Brandstifter, immer Brandstifter. Dabei könnte es ebenso der Sohn des verbrannten Paares sein, der sich an Sam rächen und seine Familie kaputtmachen will. Das gelingt ihm auch, weil er der Ehefrau von Sam die verschwiegene Missetat ihres Mannes flüstert und sich selbst als neuer Lover empfiehlt. Aber gehen die neuerlichen Brandstiftungen auch auf das Konto des Elternrächers? Das versucht der gedemütigte Sam herauszufinden und man glaubt schon einen veritablen Krimi in den Händen zu halten. Weit gefehlt.
Brock Clarke hat es weder auf einen skurrilen Kriminalroman noch auf einen absonderlichen Leitfaden abgesehen. Sondern auf eine tragische Familiengeschichte aus der amerikanischen Middle class. Liebe und Eifersucht grundieren das moralische Grundthema des Romans: Verantwortung. Denn Sam bringt mit seiner Suche nach dem Brandstifter nicht nur seine eigene Lebensuntüchtigkeit endgültig ans Licht, sondern auch die Lebenslügen seiner Mutter und seines Vaters. Die steigen nämlich nicht aus Scham über die Tat ihres Sohnes die soziale Stufenleiter hinab. Sondern, weil sie nicht fähig waren, ihre wahren Empfindungen zu offenbaren und danach zu handeln. Stattdessen stürzen sie sich in einen Berg von Dosenbier und unverarbeiteten Schuldgefühlen.
Es überrascht am Ende nur bedingt, dass auch die letzte Stütze der Familie wegbricht und der Wurstler auch all jene Schuld auf sich nimmt, die er gar nicht zu verantworten hat. Er will ein letztes Mal Buße tun und der Welt beweisen, dass er kein Wurstler ist. Allerdings zu einem hohen Preis, den niemand recht zu würdigen weiß. Außer der Detective vielleicht, der glaubt, den ehemaligen Brandstifter als notorischen entlarvt zu haben und Sam für sein Geständnis lobt. Aber auch der hat ihn letztlich nicht richtig verstanden. Genauso wenig wie der Leser, der die Memoiren des 45-jährigen Losers ratlos aus den Händen legt. Und sich fragt, ob der Creative-Writing-Dozent nicht besser einen „Leitfaden für halbgare Schuld- und Sühne-Stories“ hätte schreiben sollen. Denn bei der poetischen Gratwanderung zwischen literarischer Groteske und anspruchsvollem Gesellschaftsroman ist Clarke arg ins Schwanken und Schwadronieren gekommen. Da kann ihn auch die hervorragende Übersetzung von Harry Rowohlt nicht mehr stabilisieren.
Jörg von Bilavsky
Brock Clarke: Leitfaden zum Abfackeln von Schriftsteller-Residenzen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt. Zürich: Kein & Aber 2008. 411 Seiten. 22,90 Euro.