
Ich weiß,
Schwurbnews II, aber es geht nicht. Nicht diese Woche. Gute Ausrede Nr. 1: Gestern hatte ich plötzlich einen bitterbösen PC-Virus: Unter Blockade aller Funktionen tauchte da ein Schriftstück auf, das mich in leicht fehlerhaftem Deutsch belehrte, mein PC sei infolge zahlloser Pornoseitenaufrufe so derartig vervirt und betrojanert, dass ich auf die unten erläuterte Weise 50 Euro zu berappen hätte, damit er wieder flott würde. Ansonsten drohe … das Übliche – so eine Art dritter Weltkrieg. Natürlich besuche ich als demnächst wiedergeborener Christ niemals Pornoseiten, schließlich weiß ich nicht, ob die kopulierenden Brüder und Schwestern am Ende Atheisten sind! Aber zu wissen, dass mich da Schelme zu erpressen versuchten, stellte meine Arbeitsfähigkeit nicht wieder her.
Also musste der nette PC-Spezialist aus der Nachbarschaft ran, kostete allerdings 50 Euro.
Und außerdem war es schon Abend. Und da stand dieser offene Rotwein herum, im Begriff, zu Essig zu verrotten, so ich nicht entschlossen handelte. Und dann weiß ich nicht mehr so genau.
Heute aber, grad wollt ich mir die schwurbigst-möglichen Krimis zusammenfantasieren, stieß ich auf eine Datei mit dem Namen: „Wir halten nichts in Händen“.
Ich möchte den Inhalt zunächst der geneigten Leserschaft (hallo ihr drei!) vorstellen, dann das Unerhörte äußern, ich sollte wohl besser sagen: gestehen.
Es sei nur vorausgeschickt: Unter den gesammelten Erzählungen von Friedrich Glauser findet sich die Geschichte „Totentanz“. In der Ich-Form spricht eine Frau, am Vortag ihrer Heirat mit einem Bankdirektor, zärtlich und wehmütig zu ihrem Geliebten, den sie, ob seiner Lebensuntüchtigkeit, erschossen hat.
Und nun mein Werk:
Wir halten nichts in Händen (ca. 1300 Wörter)
„Gibt es außer mir in diesem Raum einen Menschen, der seine Körperfunktionen einigermaßen im Griff hat?“, brüllte Kurt. Und er hatte ja recht, wenn ich mich so umschaute.
Der Praktikant war schon wieder auf dem Klo, Herbert schwitzte vor Grippe, Existenzangst und versagt habender Klimaanlage wie ein samoanischer Klavierträger und ich hatte mich soeben an meinem Kaffee verschluckt und meinen Bildschirm vollgespuckt. Macht nichts, ich hatte sowieso noch nichts geschrieben.
„Entschuldige, Kurt!“
„Ach was!“, Kurt ließ sich seinen Sessel fallen. „Ist ja so oder so egal.“
„Du siehst das zu negativ, das alles hier. Uns …“, Herberts Stimme klang, als ob er es selbst alles, auch uns, unendlich negativ sähe.
„Soso“, Kurt zündete sich eine Zigarette an, wahrscheinlich, weil es seit Neuestem im Gebäude verboten war. „Unsere Zeitung wird gekauft und ausgerechnet wir drei und der Durchfallpraktikant sollen eine Redaktion ‚Enthüllung’ aufbauen. Wir drei sind ewig dabei und miserabel. Die brauchen einen Grund, um uns zu feuern. Und ich bin der Blödeste, war als einziger der Meinung, Wowereit hätte einen Scherz gemacht und wäre gar nicht schwul. Ich bin der größte Depp. Deshalb haben die mich zum Redaktionsleiter gemacht. Eine einzige Demütigung.“
Herbert fing zu weinen an. Ich hielt es nicht mehr aus und ging. Auf dem Flur begegnete mir der Praktikant. Er war bleich: „Ich muss immer so furchtbar A-a wenn ich unter Leuten bin …“ (Er sagte wirklich A-a!) „Es tut mir so leid.“
Ich nickte.
Eine junge Frau bog um die Ecke: „Ich habe gehört, hier sei irgendwo die neue Redaktion ‚Enthüllung’?“
Sie sprach mit Schweizer Akzent und sah aus, als wäre in irgendeinem Alpental der Klamottennachschub unter eine Lawine geraten und man trüge eben immer noch das Woodstockzeug. Das gefiel mir.
„Ich bin ein Teil dieser Redaktion“, sagte ich.
„Kommen Sie mit“, sagte sie. „Schnell! Ich habe eine Bombenstory für Sie, alles weitere im Auto. Ich bin Renate“, sagte sie. „Der Nachname tut nichts zur Sache.“
Im Auto saß noch ein Woodstock-Zeitreisender, der sich als „Urs“ vorstellte.
„Um was geht es eigentlich?“, fragte ich, da fuhren wir schon.
„Da“, Renate gab mir ein Taschenbuch. „Lesen Sie dritte Geschichte. ‚Totentanz’ von Friedrich Glauser“.
Ich entschied, dass es am einfachsten war, zu gehorchen.
Nur zwei Mal störte mich Urs bei der Lektüre. Ein Motorrad überholte uns und er sagte: „Schönes Töff.“ Kurz vor der Autobahn überholten wir dann ein Fahrrad und er sagte: „Schönes Velo. Super.“
„Halts Maul, Bachel“, schrie Renate. „Der Mann muss lesen.“ Dann zwitscherten sie auf Eidgenössisch noch ein Minütchen aneinander herum. Ich verstand nichts, aber es klang nicht sehr freundlich.
Inzwischen hatten wir die Grenze längst überquert, ich hatte die Geschichte durch, klappte das Buch zu und fragte: „Und?“
„Meine Recherchen haben ergeben, dass Glauser in dieser Geschichte ein echtes Erlebnis verarbeitet hat!“ Renate schaute mich erwartungsvoll an.
„Ist er wirklich erschossen worden?“, fragte ich.
„Natürlich nicht.“ Sie verdrehte die Augen. Urs lachte. „Hör auf zu lachen und fahr’“, schrie sie. „Aber er wurde angeschossen“, fuhr sie, wieder gefasster, fort. „Und die Frau lebt noch. Bankdirektorenwitwe. Sie will auspacken, aber nur bei einem echten Journalisten.“ Renate packte mich am Ärmel. „Das wird eine Bombenstory! Und wir machen halbe halbe!“
Ich überlegte mir, ob ein Mordversuch vor zig Jahren an einem Schweizer Krimiautor eine Bombenstory war. Dann überlegte ich mir, ob eine Story nicht besser als keine Story war, dachte an Herberts Schweißtränengemisch, meinen gedemütigten Redaktionsleiter und sagte: „Ich bin dabei.“ Dann dachte ich an den Praktikanten und was er wohl gerade machte. A-a.
Wir waren da. „Sie ist sehr misstrauisch, will nicht, dass man fotografiert“, sagte Renate. „Aber mit deinem Presseausweis kommst du rein, die ist geil auf die Presse, lenk sie ein paar Minuten ab, damit sie nicht ans Fenster geht, dann mach ich ein paar Fotos.“
Das war ein langer Satz. Ich konnte nur hoffen, ihn zu behalten. Aber es klappte. Die Dame ließ mich ein und ich konnte sie zu einer Sitzgruppe lotsen, von der aus man nicht in den Garten sah.
„Normalerweise sitz’ ich mittwochs am Fenster, bis der Nachtwächter kommt. Mittwochs hat mein Butler frei.“
Ich nickte.
„Aber immerhin lässt sich die Presse mal wieder sehen“, sagte sie. „Als mein Mann noch gelebt hat und wir große Feste gaben – o, da stand bald jede Woche was über mich …“Ich ließ sie reden, lange reden, konnte mir das Haus im Tessin gut vorstellen, das Boot auch und dass alles nicht mehr wie früher war, das stimmte ja. Ob man nirgends mehr ein ordentliches Bündnerfleisch kaufen konnte, entzog sich freilich meiner Kenntnis. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und entschied, dass die paar Minuten, um die mich Renate gebeten hatte, nun vorbei waren.
„Glauser!“, schrie ich.
„Wie bitte? Warum schreien Sie denn so!“ Sie fasste sich ans Herz.
„Entschuldigung.“ Ich war über mich selbst erschrocken. „Entschuldigung … Lassen Sie uns doch darüber reden, weswegen ich hier bin.“
Sie schaute mich erstaunt an. „Und das wäre?“
„Glauser“, sagte ich und meine Stimme begann zu zittern. „Friedrich … Glaube ich. Ein berühmter Krimiautor. Und Sie haben ihn erschossen. Also fast.“ Sie schaute mich bestürzt an und sagte dann: „Sie Gigu. Das ist bernerdeutsch für Trottel.“
„Aha!“, sagte ich matt.
Sie stand auf, ging zu einem prächtigen Bücherregal und fischte den G-Lexikonband vom dritten Brett. „Dieser Glauser ist 1938 gestorben“, sagte sie. „Mein Geburtsjahr. Wer sind Sie eigentlich?“
„Ich weiß nicht“, sagte ich mit enger Stimme und verließ Raum, Haus, Grundstück.
Renate winkte aus dem Wagen: „Komm halt!“
Ich kam. Wir fuhren los.
„Könnte uns scheißegal sein, wie du hier wegkommst“, sagte Renate freundlich. „Aber so sind wir nicht.
„Love and Peace!“, ergänzte Urs.
“Schnauze”, sagte Renate.
„Die Dame hat mit Glauser gar nichts zu tun“, sagte ich, nachdem ich einige Minuten einfach nur gelitten hatte.
„Und mit ihrem Schmuck hat sie auch nichts mehr zu tun“, jubelte Urs. „Im Gartenhaus versteckt, als ob wir das nicht rauskriegen. Hat das geklappt! No risk, no fun!“
„Hör zu, du Milchkanne voll Gemsenscheiße“, schrie Renate. „Wenn du deine Hackfresse nicht halten kannst, dann verschon mich wenigstens mit deinem Englisch mit Almdeppenakzent.“
Urs zuckte mit den Schulter.
„Dass ich aber auch gar nicht an die Zeit gedacht habe. Die Lebensdaten nachgeschaut …“ Dann sagte ich erst mal nichts mehr.
„Du bist eine arme Sau!“, Renate klang wirklich mitfühlend. „Wir fahren dich noch zur Grenze.“
„Logisch“, Urs nickte freundlich zu seinen Worten. „Ehrensache.“ Über den Rückspiegel zwinkerte er mir zu und wurde dafür ausnahmsweise noch nicht einmal zusammengeschissen.
„Ich zeig euch an“, brüllte ich irgendwann.
„Dann bist du unser Scheißkomplize!“, brüllte Renate zurück. „Zwei Aussagen gegen eine!“
„Warum ich?“, fragte ich später.
„Wir haben uns umgehört. Deine Artikel gelesen. Du schienst uns geeignet. Einer der Geeignetsten im ganzen deutschen Sprachraum. Wir hätten aber auch Herbert oder Kurt genommen.“
„Weil wir so doof sind“, ergänzte ich bitteren Herzens.
Urs sagte: „Man muss es ja nicht so ausdrücken.“
„Vor allem du nicht“, sagte Renate. „Chabisgrend!“
Wir fuhren schon über eine Stunde. Ich hing meinen Gedanken nach, konnte nur wiederholen: „Dass ich aber auch gar nicht an die Zeit gedacht habe.“
Renate lachte und begann zu singen.
„Bevor die Sonne sinkt,
will ich den Tag bedenken.
Die Zeit, sie eilt dahin,
wir halten nichts in Händen.“
„Prima Gedicht“, sagte ich. „Ist das auch von Glauser?“
„Nö“, sagte sie. „Ist aus dem Gesangbuch, keine Ahnung von wem.“
„Bist du fromm?“, fragte ich.
„Quatsch.“
„Ich bin Mystiker“, rief Urs mit ziemlich viel Pathos in der Stimme, ließ das Lenkrad los, hielt die Hände wie betend vors Gesicht. „Chaos, Ursuppe, Schöpfung, Verschmelzung!“
„Lenk lieber, du Arschloch“, schrie Renate.
„Fast eine Krimigeschichte“, murmelte ich mit gesenktem Kopf.
„Aber nicht von Glauser“, Renate schüttelte sich. „Dafür ist sie zu schlecht.“
Wir waren im Großraum Basel, als ich sagte: „Ihr habt mich ganz schön angeschissen, ihr zwei Schweizer. Ich werde gefeuert. Mindestens.“
„Man muss aufpassen“, sagte Urs. „Tag und Nacht und überall. Die Schweiz ist die Hölle.“ Renate lächelte.
– Ende –
- 1. Die im Text vorkommenden allemannischen Dialektismen sind mir samt und sonders unbekannt.
- 2. Neben der Überschrift habe ich notiert, es handle sich um „ca. 1300 Wörter“, laut des Befehls „Wörter zählen“ handelt es sich aber um 1407. Insofern ist meine Angabe bemerkenswert ungenau.
- 3. Die Datei wurde am 21. 10. 2009 um 7.02 das letzte Mal geändert. Da ist meine Frau immer schon weg und unser Sohn niemals, wirklich nie in der Lage, etwas, irgendetwas zu tun. Um 7.02 war das also ich? Ich bin da vielleicht manchmal nicht mehr ganz bewusstlos, aber immer voll damit beschäftigt mir den abendlichen Weinkonsum schönzureden, Wasser zu saufen wie ein Diabetiker, meine üblichen Medikamente mit einem belebenden Kaffee- Kippenmix runterzustürzen und trotz allem diesem Herrlichen ein bisschen depressiv zu sein.
- 4. Und besonders erschreckend: Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum ich und dass ich diese Geschichte geschrieben habe. Es war ein Mittwoch, dass konnte ich recherchieren. Alles andere ist weg.
Es sieht wirklich ganz danach aus, als sollte ich mich Rudi Assauer als Memorypartner andienen. Oder ist der Kasus allgemeinerer Natur? Habe ich nun einen Beleg dafür in der Hand, was berühmte Neurowissenschaftler nahelegen? Dass das „Ich“ eine Illusion ist, recht praktisch zum Töten von Mammut und Säbelzahntiger, nachwuchsfördernd, da geil machend, aber eben keineswegs so stabil, wie uns das vorkommt? Immerhin die Neurowissenschaftler, die das lächelnd in die Kameras brüllen, wirken selbstbewusst, besitzen offensichtlich beträchtliche Ich-Stärke.
Von ihnen wissen wir ja auch, dass der Gedanke z. B. „Ich liebe Herrn Gauck so sehr, ich will ihm in den Schritt fassen!“, erst ins Bewusstsein gelangt, wenn man den Schniedel des Rostocker Gottesmannes bereits blau gewalkt hat. Es mithin auch keinen Willen gibt.
Das ist ja letztlich tröstlich: Wenn man sich mal ein unzeitiges Schnäpschen gönnen will, ist die Entscheidung praktisch schon gefallen, man kann aber auch gar nichts dafür!
Bin ich am Ende eine multiple Persönlichkeit mit einem Schwyzer Zweit-Ich, dass früh aufsteht, Rohkost frisst, Yoga macht o. ä.?
Und wenn „Ich“ und „Wille“ Illusionen sind, wer hat’s dann geschrieben? Der Schweizer?
Oder aber: Bin ich – halten zu Gnaden, einfach recht dumm?
Dafür spricht einiges:
- Ich habe z. B. heute (7. 3.) im Kampfblatt FAZ ein ganzseitig abgedrucktes Gespräch zwischen Heinrich Huebschmann und Eduard Spranger aus dem Jahre 1942 gelesen und habe so gut wie nichts verstanden.
- Ich las gestern statt: „Wiederkehr“ „Wiedergänger“, statt „Widerstand“ kurz darauf „Wiederkehr“, sowie das nicht existierende Wort: „Winzerkämmer“.
- Auch habe ich mich letzte Woche im Aldi verirrt, weil ich dachte, ich sei im Edeka.
- Erneut, ich berichtete von einem ähnlichen Vorfall bereits, habe ich versucht, meine Frau lauter zu stellen, diesmal im Auto, am Drehknopf des Radios.
- Und ich habe tatsächlich gedacht, elektrischer Strom entstünde, indem man ein spezielles Pulver ins Wasser schüttet. Gut, da war ich erst vier.
Derartig verunsichert, bin „ich“ nun zwar „willens“, aber nicht in der Lage, Schwurbnews zu ersinnen. In zwei Wochen dann – versprochen. Und falls jemand einen Tipp hat, wie es zu obigem Text gekommen sein könnte – immer her damit!
Carlo Schäfer
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