Ärger mit der Zweit-Existenz
Was mit gestohlenen Daten so alles passieren könnte, hat der niederländische Autor Charles den Tex in seinem aktuellen Roman Die Zelle durchgespielt, in dem er die Themen Identitätsraub und Terrorismus miteinander verknüpft. Herausgekommen ist ein virtuoser Kriminalroman. Dagegen sieht selbst T.C. Boyles Talk, Talk bescheiden aus. Frank Rumpel ist beeindruckt …
Es waren schon stattliche Datenmengen, die da allein im vergangenen Jahr verschwanden oder verschwunden waren und wieder auftauchten. In Großbritannien gingen innerhalb kurzer Zeit komplette Datensätze von Führerscheinprüflingen und Kindergeldempfängern verloren, aus den USA wurde der Verlust von 4,5 Millionen Bank-Daten gemeldet, hierzulande verschwanden Kreditkarten- und Handydaten. Allein die Handydaten der deutschen Telekom hätten bei guten Verhandlungen laut Insidern auf dem Markt rund 50 Millionen Euro bringen können. Ein gigantisches Geschäft also an der Schnittstelle von digitaler und realer Welt und ein Hinweis darauf, dass auf diesem Feld noch einiges zu erwarten sein wird.
Einen kleinen, ziemlich fiesen Vorgeschmack liefert da der niederländische, bereits drei Mal mit dem dortigen Krimipreis „Goulden Strop“ ausgezeichnete Autor Charles den Tex in seinem neuen, neunten Roman Die Zelle. Darin hat er sich gleich zwei brandaktuelle Themen vorgenommen und sie intelligent verknüpft. Es geht einmal um Cyberkriminalität und Identitätsraub, der für den Amsterdamer Unternehmens- und Kommunikationsberater Michael Bellicher (den den Tex-Leser bereits aus dem ebenfalls bei Grafit erschienenen Vorgängerband Die Macht des Mr. Miller kennen werden) schnell sehr reale und bedrohliche Dimensionen annimmt. Als dann noch der Vorwurf des Terrorismus hinzukommt und plötzlich der Nachrichtendienst mitmischt, verbessert das seine Lage in keinster Weise.
Persönlichkeit weg …
Bellicher wird auf einer abgelegenen Straße Zeuge eines Unfalls. Das Fahrzeug vor ihm kommt von der Straße ab und prallt gegen einen Betonpfosten. Beide Insassen sterben. Statt ihn als Zeugen zu befragen, nimmt ihn die Polizei fest. Denn Bellicher steht auf der Fahndungsliste. Er soll in Monster, einer niederländischen, von Gewächshäusern dominierten Stadt bei Den Haag, mit seinem bronzefarbenen BMW einen tödlichen Unfall verursacht haben. Kleines Manko: Bellicher besitzt keinen BMW und war noch nie in Monster. Das Auto allerdings ist auf ihn zugelassen. Dass mit dem Auto später noch ein Raubüberfall ausgeführt wird, geschenkt. Viel wichtiger: Lange vor seiner Verhaftung hatte er sich ein Haus gekauft, ist nun mitten im Umzug, als ihm der Kredit für sein neues Domizil gesperrt wird. Der Grund: Er kann einen zweiten Kredit, in Höhe von drei Millionen nicht mehr bedienen. Den soll er aufgenommen haben, um sich eine abgewrackte Hütte samt abgewrackten Gewächshäusern zu kaufen. In Monster. Aber das ist freilich noch nicht alles. Bellicher wird verfolgt. Jemand scheint ihm nach dem Leben zu trachten, was wiederum damit zusammenhängen könnte, dass in dem verunfallten Wagen, den er auf der Straße vor sich hatte, ein hoher EU-Kommissar saß, der die Untersuchungskommission für Integrationshilfen leitete.
Nach endlosen Verhören wird Bellicher gegen Kaution frei gelassen. Mit Hilfe seines Anwalts und dem Cousin seines Geschäftspartners macht er sich auf die Suche nach den realen Anknüpfungspunkten für ein zunächst virtuelles Verbrechen. Die Spuren führen zu einem Brüdertrio in Monster, das einen regen Datenhandel betreibt.
Charles den Tex lässt Bellicher seine Geschichte selbst erzählen. Der führt auch einen Weblog, in dem er der Welt kundtut, wie er sich fühlt. Das ist in doppelter Hinsicht geschickt, weil der Autor so die Reflexionen seiner Figur in eigenen Kapiteln unterbringen kann und ihn als Menschen zeichnet, für den das Netz längst Teil seiner Realität ist. Dabei waren es seine unvorsichtigen Besuche im Web, die ihn seine Identität kosteten.
Dynamik da …
Den Tex ist ein genauer Beobachter, der präzise, packend und pointiert schreibt, seine Figuren und deren Motivationen meist glaubhaft vermittelt. Mancher Running-Gag ist zwar etwas dick aufgetragen, etwa wenn Bellichers Bodyguard zum jeweiligen Tag passende Sinnsprüche als T-Shirt-Aufdruck trägt, über das Rennfahren philosophiert und prompt in eine Verfolgungsjagd verwickelt wird. Aber das tut dem Ganzen keinen Abbruch. Den Tex hat ein sicheres Gespür für die Dynamik seiner Geschichte und weiß die zunehmende Beklemmung seines Protagonisten glaubhaft zu transportieren. Dem droht sein Leben zu entgleiten, muss er doch feststellen, dass es ihn mindestens zwei Mal gibt, ohne dass er Einfluss auf die Entscheidungen jener zweiten oder gar dritten Existenz hätte. Sein Pass ist nichts mehr wert, sein Bankkonto gesperrt. Er kann sich nicht mehr frei bewegen, darf kein Geld mehr ausgeben, kann in dieser Situation nicht arbeiten, hat keine Wohnung mehr, wird bedroht und sollte das Internet meiden. In seinem Weblog notiert er:
„Das ist nicht mein Leben, was immer die anderen auch behaupten mögen. Es ist, als sei ich ein Fluss und als habe mich in der Nacht irgendjemand umgeleitetet. Als flösse ich plötzlich durch ein anderes Land, eine unbekannte Gegend.“
Charles den Tex, das mag auch diese Stelle zeigen, beherrscht sein Handwerk und verpackt eine Auto-Verfolgungsjagd durch gläserne Gewächshäuser ebenso spannend, wie eine virtuelle Belagerung, zeichnet ein Verhör samt Folter und einer möglichen Überlebensstrategie so gelungen, wie ein Beziehungsgespräch. Und er agiert bei all dem nicht im luftleeren Raum, sondern lässt seine Figuren auch deutlich Kritik am System, am Schnittpunkt von Terrorbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit üben. Der niederländische Autor Charles den Tex hat mit Die Zelle einen so aktuellen, wie virtuosen, in sich stimmigen Kriminalroman geschrieben.
Frank Rumpel
Charles den Tex: Die Zelle (Cel, 2008) Roman. Aus dem Niederländischen von Stefanie Schäfer. Grafit-Verlag. 446 Seiten. 19.90 Euro.