Geschrieben am 24. April 2013 von für Bücher, Litmag

Chris Wahl (Edt.): Lektionen in Herzog

Chris Wahl_Lektionen in HerzogHerzogs Vision von ekstatischer Wahrheit

– Werner Herzog hatte sich mit Filmen wie „Aguirre“, „Cobra Verde“ oder „Fitzcarraldo“ längst den Ruf eines genialen Extremkünstlers erarbeitet. Doch in den letzten Jahren kaprizierte er sich auf ungewöhnliche Doku-Fiktionen, mit denen er offenbar neue Dimensionen zwischen Realität und Fiktion filmisch darstellen will. Vor allem diese bisher weniger bekannten Aspekte beleuchtet Chris Wahl in seinem faszinierenden Reader „Lektionen in Herzog“. Von Peter Münder.

Sein monumentales „Fitzcarraldo“-Projekt drohte zwar mehrmals zu scheitern, doch die verrückte Geschichte vom irischen Kautschukbaron Fitzcarraldo, der mitten im brasilianischen Dschungel ein Opernhaus bauen will und einen Dampfer über einen Berg transportieren muss, um an sein Ziel zu gelangen, war für Werner Herzog, 70, zur fixen Idee von existentieller Bedeutung geworden. Erst die extreme Herausforderung (Unwetter, Finanzprobleme, Indianer-Rebellion, Krankheiten, Schauspieler-Marotten) während einer Produktion beflügelt offenbar seine kreativen Impulse und lässt ihn zur Höchstform auflaufen. Zu diesen konfliktreichen Provokationen gehörte nicht nur Hollywood-Mime Jason Robards, der sich täglich in Styropor geschweißte Steaks aus den USA in den Dschungel einfliegen ließ. Auch Mick Jagger, der das spontane Dreh-Abenteuer als Wilbur im Dschungel wagte, gab bald auf, weil eine Tournee dringender erschien.

Einen weiteren Interims-Mimen, nämlich Mario Adorf, empfand Herzog als besonders abstoßend: Solche Eitelkeit, Hinterhältigkeit und Dummheit hatte er in dieser Konzentration in einer Person noch nicht erlebt. Vorübergehend wollte Herzog ja sogar mit Hollywood-Produzenten zusammenarbeiten, doch die gingen von vornherein davon aus, dass die Schiffszenen am Berg im Studio-Modell simuliert würden, was für den visionären Extremsportler Herzog natürlich nicht in Frage kam. Auch sein „liebster Feind“ Klaus Kinski, dessen egomanische Marotten dem Fitzcarraldo-Projekt fast den Exitus beschert hätten, trieb den Regisseur mit seinen irren Provo-Spielchen beinah zur Raserei – kein Wunder, dass Herzog in seinem 2004 veröffentlichten Tagebuch „Eroberung des Nutzlosen“ Kinski als „Epizentrum der Entmutigung“ tituliert. Ihn wollten die peruanischen Indianer während der Dreharbeiten sogar wegen seiner aggressiven Störmanöver umbringen – doch Herzog hielt sie davon ab.

Wer Herzogs aufregendes Tagebuch liest, lernt einen bisher unbekannten Künstler kennen: Der ist kaum auf egomanische Power-Spielchen oder den eigenen Ruhm versessen, sondern konzentriert sich mit einer geradezu zenartigen Abgeklärtheit auf die Konfrontation Mensch-Natur, ohne dabei einen romantischen, kitschigen Naturbegriff ins Spiel zu bringen. Der deutsche Herkules hat nämlich im Dschungel einen erbarmungslosen Sparringspartner gefunden, der ihm alles abverlangt und ihn schließlich zu einer demütigen Haltung zwingt.

Man hört bei der Tagebuch-Lektüre Joseph Conrads „Das Grauen, das Grauen“ aus „Herz der Finsternis“ sozusagen als begleitenden Hintergrundkommentar mit, während Herzog sich respektvoll auf diese Herausforderung einlässt. Ratten, widerliches Ungeziefer, Schlangen mögen noch so abstoßend sein, doch der Filmemacher sieht sie nicht als Boten einer nahen Apokalypse; er heißt sie willkommen, denn es ist schließlich ihr natürliches Habitat, in dem er nur vorübergehend gastiert.

„Zutiefst versöhnt mit der Natur, hatte ich eine Begegnung mit der großen Boa constrictor, die die Spitze ihres Kopfes durch das Maschendrahtgitter ihres Lattenkäfigs steckte und mir lange und unverwandt ins Auge sah. Wir dachten, starrsinnig miteinander konfrontiert, über die Verwandtschaft der Arten nach. Wir wurden beide, da sie nur gering war, traurig und ließen voneinander“.

Vielleicht verweist diese Akzeptanz des Fremden, Gefährlichen und Ungezähmten schon auf den Wendepunkt in Herzogs späterem Schaffen? Auf seine Faszination angesichts des von ihm porträtierten „Grizzly-Man“ (2005) Timothy Treadwell, der jahrelang einen beinah freundschaftlichen Umgang mit Grizzly-Bären pflegte und dann plötzlich von ihnen zerfleischt und verspeist wurde? Oder seine Begeisterung für die 35.000 Jahre alten französischen Höhlenmalereien im Ardeche („Cave of Forgotten Dreams“, 2010) die er unbedingt besuchen und filmen wollte, weil er sie als Inkarnation befreiender Träume versteht, die archaische, allgemeingültige Erkenntnisse über die menschliche Natur vermitteln?

Die poetische, „ekstatische“ Wahrheit konnte er offenbar am intensivsten in diesen überwältigenden Höhlenbildern finden. Andererseits schreckte er nicht davor zurück, zum Tode verurteilte amerikanische Gefängnisinsassen (darunter auch ein Serienmörder) ausführlich zu interviewen und in einem Dokufilm zu porträtieren („Death Row“, 2011), die sich dann jedoch vom deutschen Regisseur verraten fühlten, weil er sich nicht für ihre Begnadigung, auch nicht für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzte. Herzog war aber nicht als missionarischer Aufklärer unterwegs, sondern einfach nur an ihrer Biografie interessiert, an der Genese idiotischer Überfälle und Autodiebstähle, bei denen mehrere Menschen erschossen wurden.

Als Werner Herzog vor 25 Jahren nach LA übersiedelte, war dies für viele Kritiker und Freunde ein überraschender Schritt, denn die artifizielle Traumfabrik Hollywood, die seinen „Fitzcarraldo“ am liebsten mit Spielzeugmodellen aus Plastik und aberwitzigen Spezialeffekten trickreich realisiert hätte, konnte sich kaum jemand als idealen Arbeitsplatz für diesen Einzelgänger und Querdenker vorstellen.

Es sind diese Ungereimtheiten und Widersprüche im Leben und Werk Herzogs, die Chris Wahl, Filmwissenschaftler an der HFF Konrad Wolf in Babelsberg, als Herausgeber des Readers „Lektionen in Herzog“ – eine Anspielung auf Herzogs Film „Lektionen in Finsternis“ – aufklären will. Dazu gehört auch Herzogs lockerer Umgang mit Klassifikationen: Für ihn gibt es keine scharfe Grenze zwischen Doku- und Spielfilm, er will das Ekstatische als Authentizitätsmerkmal als zentralen Wahrheitsaspekt herausarbeiten. Und die Rolle des neutralen Doku-Chronisten lehnt er strikt ab, wie er während einer Podiumsdiskussion in Amsterdam klarstellte:

„Eine Frau trötet da unter dem Beifall aller heraus, ein Dokumentarfilmer müsse sein wie die Fliege an der Wand: nur beobachten, nicht eingreifen. Ich hielts nicht aus und rief: Ich will nicht diese Fliege sein! Sondern die Hornisse, die sticht – die die Kuhherde in Panik versetzt!“ (SZ, 4.2. 2010)

Keine Frage: Für einen Visionär wie Werner Herzog ist das Erkenntnisinteresse auf absolute Substanz und letzte Wahrheiten fixiert und nicht auf lapidare Vérité-Buchhaltererkenntnisse von Erbsenzählern.

Im Reader beschäftigen sich mehrere Beiträge mit der Rezeptionsgeschichte der Herzog-Filme in Deutschland, Frankreich, Italien und den USA. Vorübergehend war Herzog im Ausland sicher unumstrittener und anerkannter als in Deutschland, doch wie die Herzog-Veranstaltungen in Berlin (Filmhaus und Volksbühne im Oktober 2012) mit Herzogs Lesung aus dem Tagebuch (in einer Hängematte!) und dem großen Symposium zeigte, ist Herzog auch hierzulande längst zum heroischen Luftschiffer des Geistes, zur verehrten Kultfigur avanciert. Wohl auch deswegen, weil er keine Phrasen drischt, unbequemen Wahrheiten auf den Grund geht und nicht irgendwelchen modischen Trends hinterher hinkt.

Dass Herzog aber auch immer für Überraschungen gut ist, kann angesichts seines breiten Interessen-Spektrums nicht verwundern: Auf den Dokufilm über das Leben von Forschern in der Antarktis („Encounters at the End of the World“, 2007) folgt 2008 eine Parsifal-Inszenierung in Valencia und 2009 der in New Orleans spielende Film „Bad Lieutenant“ über einen korrupten Cop, außerdem noch eine vier Minuten lange Version der Puccini-Oper „La Boheme“. Insgesamt 25 Opern (davon sind die meisten von Richard Wagner) hat Herzog inzwischen inszeniert, eine davon in Bayreuth – nämlich den Lohengrin (1987).

Es ist also kein Zufall, dass der Opernfreund Herzog sich mit großer Leidenschaft in sein um den Opernhausbau in Manaus kreisendes Fitzcarraldo-Projekt hineinsteigerte. Überraschend ist jedoch, dass der Musikfreund Herzog keine Noten lesen kann. Der spannende Beitrag von Lutz Koepnick über „Herzog und die Oper“ beschäftigt sich ausführlich mit Herzogs Ästhetik und dem Mythos monumentaler Gesten und Visionen. Verblüffend und stimulierend sind noch weitere Beiträge über Herzogs Primaten, Herzogs Komik und Herzog-Parodien sowie Herzog als Euro-Ethnologe.

Wer wird schon schlau aus diesem unberechenbaren Extremkünstler Werner Herzog? Da tummeln sich Leguane, die direkt aus der Steinzeit zu stammen scheinen, in „Bad Lieutenant“ – es sind exotische Illustrationsobjekte, die zum Plot gar nicht passen, doch sie scheinen den Film irgendwie zu bereichern. Und da zieht Werner Herzog mit einem Exemplar von Vergils „Georgica“ zu den Dreharbeiten in die Antarktis. Die Vergil-Lektüre brachte ihm im ewigen Eis die absolute Klarheit, wie er dann im SZ-Interview so erklärt: „Er benennt nur die Glorie der Apfelbäume und des Bienenstocks und den Schrecken der Pest. Ich dachte mir: Wir benennen jetzt hier im Eis die Glorie dieser Antarktis! Und Menschen, die uns nahegehn, erzählen uns etwas dazu.“

Wer den genialen Werner Herzog und seine Werke besser verstehen möchte, sollte unbedingt zu diesem fabelhaften, enorm breitgefächerten Reader mit seiner großartigen Bibliografie samt ausführlicher Filmografie greifen.

Peter Münder

Chris Wahl (Edt.): Lektionen in Herzog. Neues über Deutschlands verlorenen Filmautor Werner Herzog und sein Werk. München: Edition Text & Kritik 2011. 392 Seiten. 29,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Werner Herzog: Eroberung des Nutzlosen. Hanser 2004. 335 Seiten. 21,50 Euro.
Moritz Holfelder: Werner Herzog. Die Biografie. Langen Müller 2012. 50 Fotos. 287 Seiten. 22,99 Euro.
Zur Homepage von Werner Herzog.

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