Geschrieben am 4. August 2008 von für Bücher, Litmag

Christiane Neudecker: Nirgendwo sonst

The mountains of Burma

Es gibt sie, die jungen Autoren, die sich nicht auf Selbstbespiegelung beschränken, die sich über den Horizont ihres Alltagslebens weit hinauswagen und Berlin nicht zum Nabel der Welt und ihres Schreibens erklären.
Von Frank Schorneck

Christiane Neudecker, Jahrgang 1974, hat im Jahr 2004 das Land Myanmar bereist und sich dabei nicht auf den Blick des Touristen beschränkt. Beeinflusst von den Eindrücken dieser Reise hat die Autorin, deren Erzählband In der Stille ein Klang 2005 bereits viel Beachtung fand, ihr ungemein vielschichtiges und sinnliches Romandebüt verfasst. Neudecker taucht ein in das fremde Land, blickt hinter das Lächeln der Einheimischen und hinter die coole Fassade der Rucksacktouristen. Wo vor ein paar Jahren Eva Demski in ihrem Roman Das siamesische Dorf kaum mehr als ein Klischeebild Thailands bediente und eine esoterisch verklärte Story lieferte, gelingt Christiane Neudecker in Nirgendwo sonst ein wirkliches Wandern zwischen den Kulturen samt mitreißender Geschichte.

Alles beginnt mit einem Streit. Der namenlose deutsche Rucksacktourist und die dänische Globetrotterin Sine, die einige gemeinsame Tage in Burma verbracht haben, trennen sich nach heftigem Wortgefecht an einer Bushaltestelle auf der Straße nach Mandalay. Wir erfahren zunächst nicht, was der junge Mann gesagt oder getan hat, aber es reicht offenbar aus, um eine noch frische, aber intensiv empfundene Beziehung zu zerstören. Mit rund einem Tag Verspätung kann er den nächsten Bus besteigen, Sines Fährte aufnehmen, versuchen, das Gesagte wieder rückgängig zu machen.

Während der junge Mann durch Guesthouses, Restaurants und Tempel irrt und mit fiebrigen Anfällen kämpft, die seine Angst vor Malaria schüren, erzählen Rückblenden, wie die beiden Reisenden sich kennengelernt haben, von gemeinsam gemeisterten Extremsituationen auf der Reise durch ein vom Buddhismus ebenso wie von der Militärdiktatur geprägten Land. Eingewoben in diesen Erzählstrang ist seine Geschichte, die Geschichte eines DDR-Flüchtlings, der seine Klaustrophobie bezwingen musste, um im Kofferraum eines Diplomatenfahrzeugs die Republikflucht zu meistern. Und man erfährt von einer Regisseurin, einer Freundin des Mannes, die vor ihm die Reise nach Burma unternommen und in einem abgelegenen Bergdorf Fotos gemacht hat, die sich nun zur konspirativen Übergabe an den Dorfältesten in seinem Rucksack befinden.

Christiane Neudecker verschachtelt diese Erzählstränge virtuos ineinander. Die Verknüpfung der beiden diktatorischen Systeme DDR und Myanmar geht nie zu weit, wirkt nie aufgesetzt, verkommt nie zu einem platten Gleichnis. Gleichzeitig wabern aus Neudeckers Reiseschilderungen alle Farben und Gerüche des asiatischen Landes. Bis in die zwischen deutsch und englisch hin- und herspringenden Dialoge hinein ist dieser Roman von außerordentlicher Lebendigkeit geprägt.

In ihrem Erstlingsroman verquickt die Autorin gekonnt eine tragische Liebesgeschichte (der Leser ahnt schnell, dass die Beziehung zwischen Sine und dem Erzähler zwar über einen oberflächlichen Urlaubsflirt hinausgeht, dass aber die weitaus dramatischere Geschichte daheim in Deutschland passiert ist) mit einem engagierten Länderporträt Burmas (inklusive der Frage nach der Wirkung des Tourismus auf das gebeutelte Land – die Neudecker aufwirft, aber nicht beantworten kann) und einem ungekünstelten Ausflug in die jüngere deutsche Geschichte. Neudecker hat außerordentlich viel gewagt – und auf ganzer Linie gewonnen! Nirgendwo sonst zählt zweifelsfrei zu den besten deutschsprachigen Neuerscheinungen der letzten Zeit – und nicht zuletzt als Reiselektüre sei er allen Fernwehgeplagten ans Herz gelegt.

Frank Schorneck

Christiane Neudecker: Nirgendwo sonst. Luchterhand 2008. 270 Seiten. 17,95 Euro.