Zerbröselndes Familienidyll
Claudia Piñeiro gilt in ihrer argentinischen Heimat als literarischer Shootingstar. Mit Ganz die Deine legt der Züricher Unionsverlag nun ihr Debüt in deutscher Übersetzung vor: ein raffiniert erzählter Kriminalroman und eine bitterböse Liebesgeschichte. Von Frank Rumpel
Mit einem Zettel fängt es an. „Ganz die Deine“ steht darauf, darunter ein Herz. Gefunden hat ihn Inés, die seit Jahren ganz in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter aufgeht, in einer Tasche ihres Mannes Ernesto. Etwas Ernstes, da ist sich Inés sicher, kann es nicht sein, denn solch kindliche Liebesschwüre „fand er furchtbar“. Sie beschließt, Ernesto dennoch etwas besser im Auge zu behalten, und beobachtet ihn eines Abends, wie er in einem Park mit einer Frau streitet. Die Frau bedrängt ihn. Er schubst sie weg. Sie fällt, bleibt liegen. Ein Unfall. Ernesto, erfährt sie später, versenkt die Leiche im See.
Inés ist geschockt und bezieht trotzdem Stellung. Sie geht planvoll vor und verschafft ihrem Mann ein minutiös erarbeitetes Alibi. Schließlich müsse der, sagt die Ich-Erzählerin, „schier umkommen vor Verlangen, mir das Ganze zu erzählen. Wir sind zusammen, seit wir Neunzehn waren. Wir haben uns immer alles erzählt, bis auf wenige Ausnahmen, Kleinigkeiten. Sachen, die man lieber nicht sagt, weil man den anderen damit nur verletzen würde.“
Ernesto aber denkt nicht daran, seine außereheliche Beziehung aufzugeben. Denn seine Geliebte war keineswegs die im See versenkte Frau, sondern deren hübsche Nichte. Grund zur Sorge hat er nicht, denn ohne Leiche gibt es auch keinen Täter. Das ändert sich, als die Tote, nach einem anonymen Tipp von Inés, Monate später gefunden wird. Bis zum Schluss handelt sie in dem festen Glauben, die Familie zu retten, und nimmt letztlich gar in Kauf, zur Mörderin zu werden.
Opfer- und Täterrollen lösen sich auf
Ganz langsam lässt die 1960 in Buenos Aires geborene Claudia Piñeiro in ihrem Debütroman alles auseinander bröseln. Die beiden Protagonisten sind ganz in ihren Rollen gefangen. Alles Handeln gerät zur Taktiererei mit weit reichenden Konsequenzen. Keiner von beiden merkt, dass er große Teile der Realität längst durch Wunschbilder ersetzt hat. Den Gegenentwurf dazu liefert die 17-jährige, ungewollt schwangere Tochter des Paares, die sich in immer verzweifelter werdenden Telefongesprächen mit ihrer Freundin von den Bildern ihrer Kindheit löst und sich der Realität stellt. Die Eltern bemerken weder die Schwangerschaft noch die zunehmende Isolation der Tochter. Jeder lebt in seinem Universum.
Dieses strenge, düstere Setting inszeniert die argentinische Autorin in ihrem grandiosen Debüt mit bissigem Humor und gesundem Abstand. Inés ist eine kalt rechnende Managerin ihrer kleinen Welt, Ernesto ein nicht weniger planvoller Jäger auf der Suche nach dem eigenen Glück. Beide aber hält eine Mischung aus gesellschaftlichen Konventionen, Existenzangst und Gewohnheit in ihren Strukturen. Piñeiro macht die Ich-Erzählerin Inés zur Ermittlerin in eigener Sache. Moralische Grenzen setzt sie dabei zum Wohle der Familie außer Kraft.
Ganz die Deine ist eine bitterböse Liebesgeschichte, ein raffiniert und stilistisch gekonnt erzählter Kriminalroman, in dem sich Opfer- und Täterrollen fast gänzlich auflösen. Sämtliche Protagonisten sind Getriebene – jeder freilich von einem eigenen Motiv. In diesem Roman sind alle so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass sie gar nicht merken, wie schnell sich um sie herum jene Strukturen auflösen, deren Aufrechterhaltung ihnen doch vorderstes Ziel zu sein schien. Bei Piñeiro bleibt nichts übrig. Selbst die Tochter hat sich längst verabschiedet. Unbemerkt und von niemandem vermisst.
Frank Rumpel
Claudia Piñeiro: Ganz die Deine (Tuya, 2003). Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag 2008. 191 Seiten. 14,90 Euro.