Mit Escher im Overlook-Hotel
Ein schmaler Band nur, wie geschaffen für einen trüben und dunklen Winternachmittag: Daniel Kehlmanns neue Erzählung ist eine Annäherung an das Gruselgenre und spielt mit altbekannten Elementen der phantastischen Literatur. Von Frank Schorneck
Eine Familie verbringt die Vorweihnachtszeit in einem abgelegenen Ferienhaus in den Bergen. Der Ich-Erzähler ist ein Drehbuchschreiber, der in der Abgeschiedenheit gegen eine kreative Blockade und die drohende Deadline anschreiben will; seine Frau Susanna, eine Schauspielerin, und die vierjährige Tochter Esther würden hingegen gerne mehr Zeit mit ihm verbringen. Der Gedanke an Jack Torrance, der in Stephen Kings Roman „Shining“ den Hausmeisterposten im ebenso abgelegenen Overlook-Hotel nutzen will, um einen Roman zu schreiben, liegt sehr nahe. Wie bei Kings Protagonisten kriselt es bereits zu Beginn in der Beziehung. Nicht so gravierend wie angesichts des Alkoholismus und der Wutausbrüche von Kings Protagonisten Jack, aber haarfeine Risse in der Fassade glücklichen Familienlebens klingen auch bei Kehlmann deutlich an.
Durch die Perspektive des Ich-Erzählers gewährt uns Kehlmann Einblick in das Notizbuch des Drehbuchschreibers. Die Versuche, eine Struktur in sein neues Filmprojekt zu bringen, wirken unbeholfen und konfus. Immer wieder wird seine Aufmerksamkeit abgelenkt und das Notizbuch wird zu einem Tagebuch, zur Chronik eines angekündigten Zusammenbruchs.
Zunehmende Eskalation
Der Mann hat Probleme damit, dass Susanna im Gegensatz zu ihm studiert hat und er glaubt, sie schaue auf seine Arbeit herab. Er behauptet zwar, dass mit Esthers viertem Geburtstag „alles leichter“ wird und es nicht mehr „dauernd Streit um die Frage gibt, wer mit ihr aufsteht, wer sie zu Bett bringt, wer mit den Blöckchen oder der kleinen Eisenbahn oder den Legosteinen spielt“, doch aus unscheinbaren Nebensätzen ist erkennbar, dass ihm die eigene Tochter und deren Bedürfnisse erschreckend unbekannt und unwichtig sind. Susanna hingegen beschäftigt sich sehr viel mit ihrem Mobiltelefon – und ein Blick in ihren Messenger wird die Eskalation vorantreiben.
Zunächst jedoch sind es kleine Beobachtungen, die den Mann verwirren: Er verläuft sich in dem eigentlich überschaubaren Haus, Spiegelungen in den Fenstern zeigen nicht, was sich dort spiegeln sollte, Portraitfotos unbekannter Menschen hängen an vorher schmucklosen Wänden, Räume sind nicht immer dort, wo er sie vermutet. Dies gipfelt in Situationen, in denen er durch eine Tür tritt und sich wieder im selben Raum wiederfindet, den er gerade verlassen zu haben glaubt.
Auch den verschrobenen Dorfbewohnern, die – unverständliche Warnungen ausstoßend – zu den klassischen Elementen einer Gruselgeschichte zählen, räumt Kehlmann in einer parodistisch anmutenden und komischen Dorfladenszene einen Auftritt ein. Mit dem Babyphone, das in diesem Fall auch mit einem Monitor ausgestattet ist und Dinge zeigt, die nicht sein können, kommt noch eine Reminiszenz an modernere Genrefilme hinzu.
Zwischen mehreren Stühlen
Doch auch wenn es Anspielungen auf einen möglicherweise uralten Fluch gibt, verzichtet Kehlmann in seiner Erzählung auf Geister oder Schockeffekte, legt sogar eine nahezu mathematisch-geometrische Begründung der Vorkommnisse nahe. Er begibt sich mit „Du hättest gehen sollen“ gleich zwischen mehrere Stühle: Hartgesottenen Horrorfans mag die Geschichte ein wenig zu zitatgespickt und zu wenig wirklich beängstigend daherkommen, Kehlmann-Lesern dagegen die Zeichnung der Figuren zu oberflächlich und unter seinen handwerklichen Möglichkeiten scheinen. Und trotz aller sich verschiebenden Perspektiven bleibt Kehlmanns Ferienhaus im Vergleich zu dem Gebäude in Mark Z. Danielewskis wegweisendem Roman „Das Haus“ (siehe CM-Besprechung) doch eher eindimensional.
Man könnte das Buch als eine Fingerübung eines Erfolgsautors lesen, vielleicht als eine kleine „Spielerei“ vor dem nächsten, größeren Roman. Angesichts des Stündchens gepflegten Grusels, den es bereitet, ist das kein negatives Urteil. Zum Klassiker der Schauerliteratur dürfte es allerdings nicht reichen.
Frank Schorneck
Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen. Erzählung. Rowohlt Verlag 2016. 96 Seiten. 15,00 Euro.