Ewig brennender Ofen
Das Buch von Richter ist eine gründlich recherchierte und gut geschriebene Aufklärung über die spannende Geschichte eines Berges, zu dem die Menschen rund um den Golf von Neapel – und wohl auch der Autor selbst – immer noch gebannt hoch schauen. Von C.W. MACKE
Er war erschüttert, fassungslos, wie von Sinnen. Als Gustav Flaubert im März 1851 einige Stunden am Fuße des Vesuvs verbrachte, verlor er jede Contenance und schrieb sich seine erotische Verwirrung von der Seele. „ Ich bin verrückt wie ein Esel ohne Packlast. Schon beim bloßen Kontakt mit meinen Hosen bekomme ich eine Erektion. Vor ein paar Tagen war ich soweit heruntergekommen, daß ich sogar die Waschfrau vernascht habe…Vielleicht ist es die Nähe des Vesuvs, die mir im Arsch anheizt.“ Verfolgt man die Geschichte des Vesuvs zurück bis tief hinein in die allererste Frühphase der Erde, kann man ahnen, warum ein Schriftsteller wie Flaubert hier in einen Sinnenrausch hineintaumelte. Ähnliche Erfahrungen machte offensichtlich auch Goethe, der den Vesuvausbruch in einem verdunkelten Zimmer in Gesellschaft einer verführerischen Frau bestaunte. Winckelmann hat bei einer nächtlichen Exkursion „nackend seine Abendmahlzeit eingenommen“, wie er einem Brieffreund anvertraute.
Der Vesuv hat eine bis in die Gegenwart anhaltende im Wortsinn gewaltige Bedeutung für die Region rund um Neapel. Ungefähr 25.000 Jahre v. Chr. entstand der ‚Monte Somma’ der heute als der ‚Vorgängerberg’ des Mons Vesuvius gilt. Die ersten Vulkanausbrüche werden auf das Jahr 18.000 v. Chr. datiert. Der Ausbruch des Jahres 79 nach Christus gilt als die weltweit älteste durch Augenzeugen belegbare Naturkatastrophe. Über die letzte große Eruption im Jahre 1944 schrieb der Schriftsteller Curzio Malaparte: „ Der Anblick des Meeres war vielleicht noch grauenerregender, als der der Erde. Soweit der Blick reichte, sah man nichts als eine harte, fahle Kruste, übersät mit löchern, gleich den Narben einer ungeheurerlichen Blatternerkrankung, und unter dieser reglosen Kruste ahnte man den Druck einer urweltlichen kraft, eines mit Mühe gebändigten, grimmigen Tobens, wie wenn das Meer drohe, sich aus der Tiefe zu heben…um der Erde den krieg anzusagen.“
Will man verstehen, was ein so tief in der Erdgeschichte verzweigter, Angst und Schrecken verbreitender Berg für die an seinen Hängen siedelnden Menschen bedeutet, muß man sich ihm mit einem intellektuellen Weitwinkel nähern. Wer den Vesuv nicht kennt, versteht die Neapolitaner nicht. Sie seien, so schrieb es ein Italien bereisender französischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, „ein Spiegelbild des Vesuvs: Schönheit, vor der einem graut“.
Aus dieser Spannung von Erhabenheit, Naturgewalt, Faszination und Schrecken ist die gesamte Tour d’horizont rund um den Vesuv geprägt, die Dieter Richter mit seiner Geschichte dieses Berges entfaltet. Sie beginnt mit Ausflügen in die Natur- und Erdgeschichte und endet mit der Reproduktion eines dem Vesuv gewidmeten Kunstwerks von Andy Warhol. Dazwischen ergießt sich über den Leser ein breiter Lavastrom an wissenschaftlichen, kulturhistorischen, literarischen und auch kuriosen Details. So erfahren wir zum Beispiel, daß das leuchtende Rot der neapolitanischen Fischermützen eine stete Erinnerung an das Glutrot des vulkanischen Feuers ist. Und natürlich gehört zu einer Annäherung an den „Teufelsberg“ auch die Geschichte von San Gennaro, dem populären Schutzheiligen aller Neapolitaner. Am 16. Dezember 1631, als Gott seinen Zorn mit einem gewaltigen Ausbruch des Vesuvs auf die Menschen niederprasseln ließ, fanden in Neapel große Bittprozessionen gegen „das Brüllen der Erde“ statt. Nichts konnte die Gewalt der Natur aufhalten bis der Erzbischof das in zwei Ampullen aufbewahrte Blut von San Gennaro dem Berg entgegenstreckte. Drei Kreuze. Drei Ave Maria – und der Berg schweigt. „In einem Sonnenstrahl erscheint San Gennaro mit Mitra und Bischofsstab am Fenster der Fassade des Doms den Gläubigen. Miracolo! Miracolo!“ Jahrhunderte der Aufklärung haben es bis heute nicht vermocht, das in Neapel jedes Jahr große Massen gläubiger Menschen konzentrierter auf eine Ampulle mit abgestandenem Blut starren als den Aussagens seriöser Naturwissenschaft zu vertrauen. Inzwischen wird der Vulkan rund um die Uhr von einem wissenschaftlichen Observatorium „bewacht“ und erforscht. Es gibt detaillierte Katastrophenpläne für den Fall, daß der Vesuv wieder mit aller in ihm brodelnden Gewalt ausbricht. „Das kann in 30, in 300 oder in 3 000 Jahren sein“. Weder die Wissenschaftler noch die Anhänger des San Gennaro können es vorhersagen. Also schwelt der Streit zwischen Aufklärung und Wundergläubigkeit in Neapel unterhalb des „ewig brennenden Ofens“ weiter. Das Buch von Richter ist eine gründlich recherchierte und gut geschriebene Aufklärung über die spannende Geschichte eines Berges, zu dem die Menschen rund um den Golf von Neapel – und wohl auch der Autor selbst – immer noch gebannt hoch schauen.
Carl Wilhelm Macke
Dieter Richter: Der Vesuv. Geschichte eines Berges. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 213 S. 24,50 EUR.