Die Häfen der Erinnerung
Adam kehrt anlässlich eines Klassentreffens zurück in seine kroatische Heimatstadt Pula und wird mit der Lebensgeschichte eines Menschen konfrontiert, der zeitlebens imaginäre Häfen erbaute.
Wie bei jeder Wiedersehensfeier einer alten Schulklasse wird auch Adam Vasic bei seiner Rückkehr in die Stadt seiner Schulzeit von alten Erinnerungen an Kindheit und Jugend geradezu überschwemmt. Vom Bahnhof herkommend eignet er sich die im „Speicher des Vergessens“ früher so vertraute Heimatstadt wieder an. Er blättert langsam „im Katalog seines eigenen Lebens“. Sein Vater, seine Mitschüler, seine ersten Lieben werden vor seinem inneren Auge lebendig.
Erinnern, das ist bei Velikic nie eine Musealisierung des Vergangenen, sondern ein „Verlebendigen, erweitern, ergänzen, die Szenerie aus einem anderen Blickwinkel betrachten…“ Adam Vasic macht bei seiner Rückkehr aber auch eine ganz besondere Entdeckung, die ihn immer mehr in seinen Bann zieht. Sein alter Freund Stevan hat es nach der Schulzeit nie geschafft, sich im normalen Leben so einigermaßen zurechtzufinden. Statt sich um seine Lebenskarriere zu kümmern, hat Stevan sich der genauen Rekonstruktion der Biographie eines imaginären Hafenkonstrukteurs vertieft, den das Träumen davon abhielt, seine Projekte auch in die Tat umzusetzen. „Du denkst dir eine Vergangenheit aus, und schon kommt dir die Gegenwart erträglich vor.“
Unter den zeitgenössischen mitteleuropäischen Schriftstellern ist der in Belgrad geborene, in Pula aufgewachsene, heute in Belgrad und Berlin lebende Velkic der große ‚Inventarist‘. Dass Velikic besonders Danilo Kis, Nabokov und Fernando Pessoa zu seinen großen geistigen Inspiratoren zählt, spürt man in jeder seiner Zeilen. Mit seiner großen Vorliebe für das detailgenaue Registrieren der sich in Raum und Zeit abgelagerten Gegenstände, Gewohnheiten, Gefühle, steht er in bester mitteleuropäischer Erzähltradition.
Der Duft-Photograph
Fern aller westeuropäischen Aufgeregtheiten und Kurzatmigkeiten behält er einen ruhigen Erzählton bei, der ihn auch mit W.G. Sebald verbindet. In einer Zeit, die scheinbar nur noch die flüchtige Oberflächlichkeit prämiert, lehren uns die Romane von Dragan Velikic wieder den Wert der geduldigen Aufmerksamkeit für das Verlorene zu schätzen. Er liebt kauzige Charaktere und verquere Erfindungen (zum Beispiel einen „Duft-Photographen“), für die in der rationalen, modernen Welt eigentlich gar kein Platz mehr ist. Und immer wieder stoßen wir bei der Lektüre der Romane von Velikic auf Sätze, die einem einfach nicht mehr aus dem Sinn gehen. „Einsamkeit bedeutet nicht die Abwesenheit des anderen in uns, die Einsamkeit ist unsere Abwesenheit in uns selbst.“ Oder die Stelle, wo Velikic‘ das Scheitern alltäglicher Rituale beschreibt: „Ein rigoroser Stundenplan für Frühstück und Siesta verführt zu der Illusion, die Peripherie des Selbst ließe sich kontrollieren, sodass die Verschwörer innehalten…“ Ein besonderes Lob verdient aber auch die Übersetzerin Bärbel Schulte, die von dem so detailverliebten Autor sicherlich immer wieder zu langen Recherchen im „Wörterbuch der untergegangenen deutschen Begriffe“ gezwungen wird.
Dass der mare-Buchverlag die jeweiligen Übersetzer der Bücher auch mit mehr als nur der Nennung ihres Namens würdigt, sollte einmal ganz besonders lobend hervorgehoben werden.
Carl Wilhelm Macke
Dragan Velikic: Dossier Domaszewski. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte. mare-Buchverlag 2004. 192 Seiten. Euro 18.