Interpretationsbedürftiges Regelwerk
‒ Kriminalromane aus Israel erfreuen sich seit Batya Gur und Shulamit Lapid bei uns seit Jahrzehnten großer Beliebtheit. Jetzt gibt es den Kriminalroman über israelische Kriminalromane, die es angeblich nicht gibt. Joachim Feldmann über Dror Mishanis „Vermisst“ ‒ ein etwas zähes Meta-Exerzitium.
Würde Inspektor Avi Avraham selbst beherzigen, was er der Mutter eines verschwundenen Sechzehnjährigen erzählt, wäre er erheblich näher an des Rätsels Lösung. Doch der Kriminalist aus Cholon in der Nähe Tel Avivs, dessen liebster Zeitvertreib darin besteht, fiktiven Ermittlern wie Hercule Poirot Fehler nachzuweisen, hat eigentlich nur im Sinn, die besorgte Dame zu beruhigen, als er darauf hinweist, dass es in Israel keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter gebe: „Wenn bei uns ein Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte Ermittlung, um das Geheimnis zu lüften.“ Aus eben diesem Grunde gebe es auch keine einheimischen Kriminalromane.
Eine steile These, die nicht nur die Leser von Batya Gur oder Shulamit Lapid empört zurückweisen würden. Da es sich bei Avi Avraham allerdings um eine Erfindung des Jerusalemer Literaturprofessors Dror Mishani handelt, dessen Spezialgebiet die Geschichte der Kriminalliteratur ist, darf man davon ausgehen, dass hier mehr im Spiel ist als reine Ignoranz. „Vermisst“ lautet der Titel seines Romandebüts, dem es weniger um die Suche nach Täter und Motiv zu tun ist als um das Verhältnis von Fiktion und Realität. Die zweite Hauptrolle spielt nämlich ein verstörter junger Familienvater, der im selben Haus wie der verschwundene Teenager wohnt. Seev Avni ist Englischlehrer und hat dem Jungen Nachhilfeunterricht erteilt. Aber er fühlt sich auch als Schriftsteller, dem sich nun die einmalige Gelegenheit bietet, Realität und Fantasie auf perfide Weise zu vermischen.
Kreatives Schreiben und Mißlaunigkeit
Mishani erzählt abwechselnd, aber nicht streng chronologisch aus der jeweiligen Perspektive seiner beiden Protagonisten. Wir begleiten den missgelaunten Inspektor auf einer Dienstreise nach Belgien und erleben mit Avni ein Seminar zum kreativen Schreiben. Nicht immer sind wir auf dem aktuellen Stand der Ermittlungen, mancher Schachzug der Polizei wird erst im Nachhinein erläutert. Dafür dürfen wir aus nächster Nähe verfolgen, wie Avnis Weltsicht deutlich wahnhafte Züge annimmt. Angenehm ist das nicht. Der Lehrer ist eine jener Figuren, die man lieber auf Distanz halten möchte. Da geht es dem Leser nicht anders als dem Ermittler, der am Ende natürlich mit einer überraschenden, letztendlich aber durchaus naheliegenden – siehe oben – Lösung des Falles aufwarten kann. Ob sie in jeder Hinsicht den Tatsachen entspricht, bleibt allerdings im Dunkeln.
„Vermisst“ ist weniger ein Kriminalroman als ein metafiktionales literarisches Spiel mit einem interpretationsbedürftigen Regelwerk. Weitere Fälle für Inspektor Avraham sollen folgen. Man darf ihnen mit großer Geduld entgegensehen.
Joachim Feldmann
Dror Mishani: Vermisst (Tik ne’edar. 2011). Roman. Aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Wien: Zsolnay 2013. 351 Seiten. 17,90. Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr zum Autor.