Geschrieben am 1. September 2016 von für Bücher, Erzählungen, Litmag

Erzählungen: Bov Bjerg: Die Modernisierung meiner Mutter

Bov Bjerg Modernisierung MutterIrrlichternd durch Provinz und Großstadt

„Ohne Brille kann ich links und rechts nicht unterscheiden“, sagt der Erzähler in Bov Bjergs Geschichte „Herzkrank“ – und irrt natürlich in die falsche Richtung. Dabei hat ihm ein netter Polizist den Weg zur nächsten U-Bahn gezeigt. Aber die vorangegangene Nacht liegt verschwommen hinter einigen Gläsern Whisky und Bier, und die paar Stunden in der Ausnüchterungszelle haben die Verwirrung nur erhöht. Diese schulterzuckend akzeptierte Orientierungslosigkeit führt Bjergs Erzählerfiguren häufig in die falsche Richtung, und irgendwie dann aber doch ans Ziel.

„Ohne Brille kann ich links und rechts nicht unterscheiden“ war auch der Titel, unter dem fast alle der vorliegenden Kurz- und Kürzestgeschichten nach dem Erfolgsroman „Auerhaus“ als eBook erschienen. Dieses eBook wurde dann vom Markt genommen, um eine Geschichte ergänzt und neu als „Die Modernisierung meiner Mutter“ herausgebracht, diesmal nicht nur digital, sondern auch gedruckt.

Erzählungen in drei Teilen

Drei Teile umfasst die Sammlung: Der erste und größte Teil heißt „Erste Abfahrt Mehrzweckhalle“ und beinhaltet Geschichten, die wie „Auerhaus“ im Schwäbischen spielen, „Geänderte Verkehrsführung“ versammelt irrlichternde Figuren, die noch nervös in einem Berlin der Neunzigerjahre, vielleicht frühen Nullerjahre nach ihrer Brille zu tasten scheinen, und „Alle Richtungen“ öffnet sich mit Blick auf kürzere und längere Reisen, Göttingen, Frankfurt, Amerika, um dann wieder in Berlin anzukommen, einem veränderten Berlin, einer modernisierten, gentrifizierten Stadt. Der Erzähler wird an den Ort gerufen, an dem sich einst eine Lesebühne befand, wo er häufig auftrat. Heute ist hier ein Maklerbüro, protzig und, ja, irgendwie ekelhaft in seiner marmornen Schönheit. Die ganze Gegend ist kaum wiederzuerkennen, „als der Sexshop noch hier war, war alles gut“, denkt der Erzähler und wundert sich über seine Gedanken. Den Makler, den er besuchen soll, nennt er in der Geschichte „Dings“, und der „Dings“ ist ein einstiger Fan aus Lesebühnenzeiten, der die Niederschrift einer längst verloren geglaubten Geschichte bei den Arbeiten zur Luxusmodernisierung des Gebäudes gefunden hat. Nun will Dings sie dem Erzähler verkaufen – die eigene Geschichte, aber der lehnt ab, obwohl er weiß, dass es die beste Geschichte war, die er je geschrieben hat. Stolz und Trotz und Haltung sprechen aus ihm, und wir, die Leserinnen und Leser von Bov Bjerg, werden nie erfahren, wie gut diese beste Geschichte war. Gemessen an dem, was wir von Bjerg kennen, muss sie natürlich verdammt gut sein, aber dann sind Bjerg und seine Protagonisten ja nicht unbedingt deckungsgleich, wenn auch nah beieinander.

Ganze Welten mit wenigen Worten

Bjerg schafft es, in jedem dieser kleinen Prosastücke mit wenigen Worten ganze Welten zu vermitteln, eine andere Zeit auferstehen zu lassen, ein Lebensgefühl zu transportieren. Zwanzig Jahre Lesebühnentexte hält man mit „Die Modernisierung meiner Mutter“ in den Händen, und Lesebühne bedeutet: knapp, präzise und eine hohe Gagdichte. Die Gags sind eher melancholisch und tiefsinnig, mehr Sprachwitz als Slapstick, selbst wenn der Protagonist in „Schinkennudeln“ dem Lehrerehepaar auf den Tisch kotzt, weil er zu viele der titelgebenden Schinkennudeln gegessen hat. Die Tragik dahinter ist ein Universum aus westdeutscher Verklemmtheit und Spießigkeit, aus Klassenunterschieden und religiösen Vorurteilen. Wir sprechen hier bei Religion von Protestanten und Katholiken, übrigens.

Je weiter die Protagonisten in ihrem Alter voranschreiten, desto wahn- und traumhafter können die Geschichten werden. Hypochondrie und Panik mischen sich in das Suchen nach der richtigen Richtung.

Häufig hat man das Gefühl, die Texte würden mitten in der Handlung abbrechen, aber das liegt vor allem daran, dass man gern noch länger verweilen möchte, noch mehr erfahren will, und dass es gar nicht um eine laute Abschlusspointe geht. Die Anfänge lesen sich ebenso häufig so, als hätte man gerade zwei, drei Absätze verpasst, da merkt man Bjergs Lesebühnenstil, da kommt er gleich zum Wesentlichen, ohne Zeit zu verlieren. Eine wundervolle Qualität. Wie schön er auch auf kürzestem Raum erzählt, zeigt er in diesen Kürzesttexten, die zwischen seinen Erzählungen zu finden sind. „Auch ziemlich merkwürdig an der Natur“, schreibt er da, „Man geht in sie hinein, spazieren etc., und irgendwann stellt man fest, dass dort alles immer noch so ist wie vor dem Internet.“

Das Internet, das Digitale hat den Kurzformen der Literatur wieder zu mehr Raum verholfen, aber sie waren immer da, diese kurzen Geschichten, zum Beispiel auf den Lesebühnen. Sie nun endlich zu drucken, war eine wunderbare Idee.

 

Bov Bjerg: Die Modernisierung meiner Mutter. Blumenbar / Aufbau Verlag, 160 S., 16 €. eBook 11,99 €.

Diese Besprechung wurde für die Sendung Forum Buch / SWR2 vom 21.8.2016 verfasst und kann hier nachgehört werden.

Tags :