Der Mann, der die Frauen liebt
Ein opulentes Buch und eine große Ausstellung für Peter Lindbergh.
– Alf Mayer gibt einen Reisehinweis zu einem Fotografen, bei dem Schönheit ganz einfach aussieht. Wann waren Sie zuletzt in Rotterdam? Eigentlich findet sich immer Anlass, für ein paar Tage in eine der ästhetisch aufregendsten Städte Europas zu fahren (aus Köln in 3 Stunden 14 mit dem Thalys). Jetzt, vom 10. September bis zum 12. Februar 2017, gibt es einen gewichtigen Grund mehr. Nämlich die große Fotoausstellung „A Different Vision on Fashion Photography“ mit mehr als 220 Arbeiten von Peter Lindbergh in der Kunsthal Rotterdam. Das ist und wird ein großes Ding. Kurator Thierry-Maxime Loriot war schon für die Ausstellung „The Fashion World of Jean Paul Gaultier: From the Sidewalk to the Catwalk“ verantwortlich, die über zwei Millionen Besucher angezogen hat. – Jetzt am 3. Dezember von 16 bis 18 Uhr signiert Peter Lindbergh sein neues Buch A Different Vision on Fashion Photography im Taschen-Store in Berlin (Schlüterstr. 39).
Das Buch zur Ausstellung ist nicht irgendein dahergelaufener Katalog. Es ist eine in jedem Sinne gewichtige Monographie. Das Buch über Peter Lindbergh kommt vom Verlag Benedikt Taschen und ist ein über 500 Seiten starker opulenter Bildband, er versammelt – nein: er präsentiert – über 400 teils noch unveröffentlichte Fotos und enthält ein überaus kluges, umfangreiches und vielschichtiges Nachwort von Thierry-Maxime Loriot, ist eine spannende Reise in Sachen zeitgenössische Fotografie und Mode. Gestaltet wurde das Fotobuch von der vielfach preisgekrönten Grafikagentur Paprika aus Montreal.
Peter Lindbergh, Jahrgang 1944, sagt: „Heute sollte es die Verantwortung von Fotografen sein, Frauen und letztlich uns alle von dem Terror von Jugend und Perfektion zu befreien.“ (Interview in Art Forum, Mai 2016.) Man kennt ihn als Fotografen der ‚Supermodels‘. Dass sie uns Eindruck machen und machten, schon gleich in den und seit den frühen 1990ern, das hat mit seinem Verständnis von Fotografie zu tun. Mit seinem Ethos, seiner künstlerischen Auffassung der fotografischen Kunst und seinem Können. Lindberghs Fotos haben einen eigenen Reiz. Eine eigene Kraft. Eine eigene Poesie. Und Wahrheit.
Ja, er ist Modefotograf, hat gerade wieder für die Oktoberausgabe der Vogue Italia eine Bildstrecke von einhundert Seiten produziert. Und nein, er ist keiner, sagt Franca Sozzani, die langjährige Chefin der Vogue Italia, die viele seiner großen Arbeiten ermöglicht hat. Peter Lindbergh ist für sie ein eigenständiger Fotograf, „der Mode benutzt, um Frauen anzusprechen und über sie zu sprechen, was eine völlig andere Sache ist“. Wim Wenders, dessen „Himmel über Berlin“ Lindbergh zu einer Serie mit Amber Valetta mit Engelsflügeln in den Straßen New Yorks inspirierte, sieht bei ihm „die Schwerkraft aufgehoben, auch die seines Metiers“.
Arbeit an den Rändern, hauptsächlich Schwarz-Weiß
Im Zeitalter von Digitalfotografie und Photoshop, Retinadisplays mit Millionen Pixeln und Farben, HD-Fernsehen, K4-Projektion im Kino und allgegenwärtigem Hochglanz arbeitet Peter Lindbergh an den porösen, schattenwerfenden, unregelmäßigen Rändern der zeitgenössischen Fotografie. Er gehört zu den ganz großen Fotografen unserer Zeit, fotografiert hauptsächlich schwarz-weiß. Das erste Farbfoto (Mila Jovovich, die er immer wieder vor die Kamera holte, im Jahr 2000 in L.A.) findet sich auf Seite 128. Als er 1988 von der prestigeträchtigen Vogue seinen ersten Auftrag erhielt, zog er mit einer Handvoll kaum bekannter Models zum Shooting an den Strand von Santa Monica. Alle trugen sie weiße Hemden, keine Mode, alle waren sie ungeschminkt und alberten vor der Kamera herum. Die Fotos mit Linda Evangelista, Karen Alexander, Christy Turlington, Eselle Lefébure, Tatjana Patitz und Rachel Williams waren – unter Modegesichtspunkten – ein Schock, Sie landeten in der Schublade. Als Anna Wintour (eine der Personen, der im Buch ein großes Dankeschön gilt) im Juli 1988 die Leitung der US-Vogue übernahm, fand sie die Bilder vor. Sie sah darin etwas Neues, sah eine besondere Gabe. Das Foto mit den weißen Hemden (Seite 12/13 im Buch) wurde später in dem Buch „100 Years of Vogue“ zum wichtigsten Bild der 1980er Jahre erklärt.
Tatsächlich war es Peter Lindbergh, der mit seinen zeitlosen Bildern eine Art neuen Realismus in der Fotografie etablierte, der Schönheitsnormen neu definierte, Stereotypen durchbrach, ein neues Verständnis von Schönheit definierte und die Erstarrung der Modefotografie auflöste. Der in Duisburg, umgeben von blanker Industriekultur aufgewachsene Lindbergh bezeichnet sich als vom Film des deutschen Expressionismus und vom italienischen Neorealismus beeinflusst, hat immer schon die Nähe zu Tanz und Ausdruck gesucht, hat mit „Der Fensterputzer“ (2001) einen schönen Film über Pina Bausch gedreht. Ihr Porträt auf Seite 80 (ach, ist das Register eine Freude, weil man da auch zum Beispiel nach Modemachern suchen kann) ist ebenso Programm wie das von Charlotte Rampling, Aretha Franklin oder Jeanne Moreau. Mit Naomi Campbell huldigte er bei ihrem ersten gemeinsamen Shooting Josephine Baker (S. 180/81). Das sehr vielschichte, zehnseitige Nachwort weist noch auf viele weitere Verbindungen zum Tanz hin, behandelt viele Aspekte, so auch die Zusammenarbeit mit Modehäusern und Modemachern, Lindberghs Offenheit für Avantgarde und seine ästhetischen Wurzeln.
Textur, Oberflächen, Stoff, Haut, Poren, Unregelmäßigkeit, Unperfektes
Lindbergh Fotos sehen oft aus wie Filmbilder, haben (noch) eine Bewegung innewohnen, sind selten statisch, schon gar nicht Pose. Er selbst sieht sich gerne als Geschichtenerzähler. „Eine Erzählung verändert alles“, sagt er. „Meine erste war 1990 für die italienische ‚Vogue‘, und sie ging etwa so: Helena Christensen hatte einen kleinen Marsianer entdeckt, der offensichtlich irgendwo in der südkalifornischen Wüste mit seinem UFO notgelandet war. Sie fuhr ihn nach Los Angeles, zeigte ihm den Santa Monica Pier und Hollywood Boulevard, nahm ihn mit zu einem alten Trailer im Nirgendwo. Er verliebte sich in sie, aber dann empfing sein Radio Signale und seine Freunde kamen, um ihn zu retten.“
Digitalfotografie findet er bis heute „schrecklich und herzlos“. In seinem Studio setzt er das Bildbearbeitungsprogramm Photoshop ein, um die Bilder analog aussehen zu lassen, mag seine Prints gerne extrem dunkel, mit wenig Kontrast. Seine Fotografien zeigen Textur, Oberflächen, Stoff, Haut, Poren, Unregelmäßigkeit, Unperfektes. Auf 35 mm zu schießen hat er immer geliebt, das sei „mehr wie Reden – Fotografie im Dialog. Konventionelle Fotografie ist mehr eine Präsentation. 35 mm ist wie ein Teil deines Körpers. Du redest, und du fotografierst, wie deine Modelle auf dich und deine Kamera reagieren. Viele Fotografen sind Fetischisten. Sie reden dauernd über ihre Kamera, nicht über ihre Bilder. Ich habe eine alte Nikon. Sie ist perfekt. Es geht nicht um die Kamera. Es geht um die Frau: Ein gutes Mode-Foto ist ein treffendes Porträt einer tollen Frau. Bei mir wissen die Models, dass es um ihre Persönlichkeit geht.“
Immer wieder vor kommt Kate Moss, die auch auf dem Cover zu sehen ist. Für ihn ist sie „einfach die coolste Person der Welt. Sie ist weder groß noch umwerfend schön, gemessen am Mainstream-Ideal, aber wozu auch. Sie scheint das alles nicht zu kümmern“. So unbefangen kann man bei Peter Lindbergh auch Nadja Auermann, Claudia Schiffer, Tina Turner, Kate Winslet, Linda Evangelista, Marion Cotillard, Nicole Kidman, Eva Herzigova, Tilda Swinton, Gisele Bündchen, Helena Christensen, Christy Turlington, Carey Mulligan und vielen anderen begegnen. Vergleichsweise Pose sind da die Männer: Keith Richards, Adrian Brody, Silvester Stallone, Richard Gere, John Malkovich oder Brad Pitt.
„Der Raum zwischen dem Fotografen und seinem Modell ist das, was man fotografiert. Es ist der unsichtbare Teil eines Menschen, den man einfängt, wenn er oder sie gewillt ist, ihn preiszugeben.“
Bei Peter Lindbergh kann man das sehen. Immer wieder.
Alf Mayer
Buch: Peter Lindbergh: A Different Vision on Fashion Photography. Herausgegeben von Thierry-Maxime Loriot, gestaltet von Paprika. Hardcover, Format 23,9 x 34,0 cm. Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch. Taschen Verlag, Köln 2016. 524 Seiten, über 400 Abbildungen, 59,99 Euro. Verlagsinformationen.
Ausstellung: Peter Lindbergh: A Different Vision on Fashion Photography. Ausstellung in der Kunsthal Rotterdam. 10. September 2016 bis 12. Februar 2017, je Dienstag bis Sonntag. Eintritt 12 Euro. Museumsinformationen.