Geschrieben am 11. Juli 2009 von für Bücher, Crimemag, Porträts / Interviews

Frank Göhre: Seelenlandschaften

Zwischen St. Pauli und Miami

Frank Göhres Seelenlandschaften liefern faszinierende Autorenporträts, gesellschaftskritische Reflexionen und eine groteske Satire über einen neuen Krimi-Trend. Die Rezension von Peter Münder ist gleichzeitig ein kleines Göhre-Porträt.

Wer Frank Göhres ebenso mitreißende wie anrührende, romanhafte Glauser-Biografie Mo (2008) gelesen hat, dürfte schnell registriert haben, welch ein Glücksfall sich hier aus der raren Symbiose von Empathie und scharfsinniger Analyse ergab. Die Frage „What made him tick?“ wurde wohl nie so detailliert und einfühlsam mit einer so überzeugenden kritisch-analytischen Radikalität beantwortet wie in diesem Psychogramm des kreativen Schweizer Außenseiters, Dadaisten, Morphinisten und Schriftstellers Friedrich Glauser. In seiner in diesem Band enthaltenen Kurzversion, einer „Annäherung an Glauser“, versucht Göhre, der Romanfigur Wachtmeister Studer auf den Grund zu gehen, den der vom Entzug Geschwächte als gutmütigen Vaterersatz versteht: „Der Patient Glauser ist schwach. Braucht jemanden, der ihn hält, nicht wegstößt, abschreibt. Einen, der ihn nicht verachtet, nicht in Verwahrung nimmt, nicht bevormundet. So einen wie den da. Dieser große, starke Mann, der vor ihm stehen bleibt, als Bild, ihm zusetzt mit seiner Behaglichkeit und Ruhe. Studer. Wachtmeister Studer. Eine Figur. Seine Figur. Eine gute Figur. Ein Fahnder, der ihn nicht so einfach entkommen lässt, dicht an ihm bleibt, ihn stellt, ihn auf seine eigene Geschichte bringt. Der Patient Glauser reibt sich die Stirn: Sieht jetzt klar…nickt stumm, legt die Finger auf die Tasten und hat den ersten Satz. Der trifft genau. Er schreibt: Einer will nicht mehr mitmachen.“

Porträts & Reflexionen

Dieses subtile Einfühlungsvermögen gegenüber anderen Autoren und das Erkenntnisinteresse an deren Werken zeichnet Frank Göhre sicher als Ausnahmeerscheinung aus: Denn er kann nicht nur mit den eigenen spannenden Plots, dem stimmig getroffenen Milieu und den überzeugenden Figuren seiner St.-Pauli-Krimis überzeugen, sondern auch mit Porträts und Reflexionen über andere Autoren. Als Herausgeber der liebevoll editierten Reihe Kriminelle Sittengeschichte Deutschlands (Edition Köln) und als Pendragon-Autor hat er scharfsinnige, spannende Porträts, Nachworte und Kommentare über Helga Riedel (Einer muss tot), Peter Schmidt (Die Regeln der Gewalt), Hans-Jörg Martin (Kein Schnaps für Tamara), Irene Rodrian (Schlaf, Bübchen, schlaf) sowie Friedhelm Werremeier und seine Trimmel-Romane geschrieben, die nicht nur punktuell einen Verfasser oder ein Buch ins Visier nehmen, sondern gleichzeitig auch die „Chronik laufender Ereignisse“ als beeinflussenden Zeitgeist-Faktor berücksichtigen. Den historisch-politischen Hintergrund zu Irene Rodrian und ihrer Rolle als Chronistin der 70er-Jahre umreißt Göhre mit einem Panoramablick auf das Jahr 1967 folgendermaßen: „Lyndon B. Johnson ist der 36. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Ernesto Che Guevara schrieb in sein Tagebuch: „Es sind fast zwei Jahre her, dass die Nordamerikaner die systematische Bombardierung von Nordvietnam begonnen haben. Die griechische Armee putscht und übernimmt wegen angeblich kommunistischer Gefahr die Macht im Lande. Ein Arbeitspapier der FDP schlägt die Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze vor. Am 19. April stirbt Konrad Adenauer im Alter von 91 Jahren. Kurt Georg Kiesinger ist Bundeskanzler, Willy Brandt Außenminister. Im Mai führen die Beatles mit „Penny Lane“ die deutsche Hitparade an. Der Schah von Persien besucht die BRD. Der Student Benno Ohnesorg wird dabei von einem Polizeibeamten erschossen … Und in München wird der vom Goldmann Verlag ausgelobte Edgar-Wallace-Preis 1967 für das beste deutschsprachige Kriminalroman-Manuskript verliehen.“ Beim Wiederentdecken einiger fast vergessener Autoren hilft das Einbeziehen dieses Zeitkolorits enorm – schließlich lieferten faschistoide Verhaltensmuster und Vorurteile damals brisanteres Konfliktpotenzial für kriminelle Machenschaften als heutzutage die üblichen Drogen- oder Mafia-Geschichten.

Hinter den Kulissen

Einen kritischen Blick hinter die Kulissen des Krimi-Geschäfts hatte Göhre in seinem Porträt des Hamburger Kollegen Hansjörg Martin (1920–99) geworfen, als er in seinem Nachruf auch einen Besuch beim Meister auf Mallorca beschreibt und sich an Diskussionen über kümmerliche Honorare, verweigerte Hardcover-Ausgaben, Nebenrechtsbeteiligungen und willkürliche Korrekturen von Herausgebern und Lektoren erinnert. Das wirkt dann zwar streckenweise wie ein Fachreferat eines Steuerberaters oder Buchhalters, für einen Autor wie Hansjörg Martin waren es jedoch Fragen von existentieller Bedeutung. In Seelenlandschaften mokiert Frank Göhre sich nun in der grotesken Satire „Albernheiten, Alltagsgeschwätz“ über neuere Trends und kommerzielle Aspekte der Krimi-Branche. Da mausgraue Helden nun nicht mehr angesagt sind, sollten Kommissare und Privatdetektive möglichst exotische und ungewöhnliche Figuren sein – amputierte Ermittler sind jetzt sehr gefragt, auch Transvestiten stoßen in den Verlagsetagen auf Wohlwollen. Und die Mordfälle selbst müssen natürlich auch aus dem üblichen Raster fallen: „Sven Hammel unternimmt einen Kurztrip nach Amsterdam, trifft dort bei einer Grachtenfahrt mit Mareike Grijpstra zusammen, die einem sprechenden Krokodil auf der Spur ist, das schon mehrere Kinder ins Wasser gelockt hat.“… Das geht jedenfalls aus den „zufällig aufgefundenen Notizen eines ehrenwerten Syndikat– Mitglieds“ hervor, in denen auch noch kräftig über Provinzkrimis und Ideenklau unter Autoren hergezogen wird. Ein amüsantes Intermezzo, dessen ironische Kritik an aberwitzigen neuen Krimi-Trends allerdings einen halbwegs realistischen Hintergrund hat.

Willeford

Das Willeford-Kapitel finde ich am spannendsten. Nicht nur, weil man nun endlich erfährt, was den Krimi-Autor von der hanseatischen Waterkant mit schöner Regelmäßigkeit nach Miami zieht: Es sind die Schauplätze der Romane von Charles Willeford (Cockfighter, Pick-Up). Jeden Abend Miami Vice ist jedenfalls ein idealer Appetizer für eine Wiederbegegnung mit diesem grandiosen Altmeister. Selten hat man die Verästelungen im düsteren Mikrokosmos von Willefords Miami und die wilden Eskapaden seines Außenseiter-Cops Hoke Moseley so präzise und begeistert nachvollziehen können wie in diesem Porträt.

Göhre will jedoch nicht lesende Nostalgiker bedienen, die romantisch-benebelt auf der Memory Lane zurückgleiten wollen in vermeintlich bessere Zeiten. Wenn er sich etwa mit Tony Hillerman und dessen Indianer-Cop Joe Leaphorn von der Navajo Tribal Police beschäftigt, dann nimmt seine Analyse natürlich auch die aktuelle Entwicklung in amerikanischen Reservaten kritisch ins Visier und die Ressentiments der angeblich so aufgeklärten Hi-Tech-Rationalisten gegenüber abergläubischen Rothäuten. Und wenn Göhre dann über den unter Navajos und Seminolen aufgewachsenen Hillerman schreibt, dem ein Verlag seinen ersten Roman mit dem Tipp zurückschickte, er solle „das ganze Indianerzeug rausschmeißen“, dann ahnen wir schon, dass er hier einem Bruder im Geiste begegnet ist, der ebenso intensiv fremde Seelenlandschaften sondiert wie er selbst. Pauschale Vorverurteilungen, plumpe Vorurteile gegen Indianer oder Weiße wird man in Hillermans Ethno-Krimis nicht finden, meint Göhre. Hillermans Interesse am Verhalten der Indianer ging einher mit einer genauen Beobachtung, dem Registrieren alter Traditonen und Verhaltensmuster, woraus dann ein Verständnis für dieses Anderssein entstand. Ähnlich hält es auch Frank Göhre: Sein mit großer Empathie praktiziertes präzises Beobachten, das den Leserhorizont und sein Verständnis für andere Kulturen und deren Randexistenzen erweitert, macht diesen Hamburger Sondierer in vertrauten und unbekannten Seelenlandschaften zu einem so einzigartigen und spannenden Autor.

Peter Münder

Frank Göhre: Seelenlandschaften. Annäherungen. Rückblicke.
Bielefeld: Pendragon Verlag 2009. 222 Seiten. 9,90 Euro.

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