Geschrieben am 1. Januar 2005 von für Bücher, Litmag

Frédéric Beigbeder: Windows on the World

119 Minuten Inferno

Frédéric Beigbeder hat versucht, was viele nicht gewagt haben: einen Roman über den 11. September zu schreiben. Von Markus Kuhn

Der 11. September 2001. Ein Tag, der sich in die Geschichte der westlichen Welt eingebrannt hat. Thema unzähliger Sachbücher, Dokumentationen, immer wieder erwähnt, wenn es um die Deklaration eines globalen Epochenwandels geht. Einen Roman über den 11. September hat es bisher allerdings noch nicht gegeben. Wer würde sich an das Tabu heranwagen? Wer riskieren, die Gemüter mit dem Grad an politischer Inkorrektheit zu provozieren, der einem solchen Unterfangen automatisch anhaftet?

Tabubrüche in Serie

Der 39-jährige Frédéric Beigbeder zählt zu jener Gruppe französischer Autoren, die seit Mitte der Neunziger ihre Literatur durch aufsehenerregende Skandalthemen ins öffentliche Interesse gepuscht haben. Bei Beigbeders Sucht nach medialer Omnipräsenz – die nach seinem Erfolg mit dem Enthüllungsroman 39,90 extreme Ausmaße annahm – war der nächste Tabubruch eigentlich der einzig logische Schritt. Voilà: Windows o­n the World – Beigbeders fünfter Roman.
„Es gibt nur eine Möglichkeit zu erfahren, was sich am 11. September 2001 zwischen 8.30 Uhr und 10.29 Uhr im Restaurant des Nordturms des World Trade Centers zugetragen hat: Man muss es erfinden!“, erklärt der Erzähler – ohne weiteres als Alter Ego Beigbeders zu identifizieren – gleich zu Beginn und stellt so sich und seine Vorstellungskraft in den Mittelpunkt. Windows o­n the World ist nicht nur ein Buch über die Ereignisse am 11. September, sondern auch ein Buch über einen Schriftsteller, der sich mit aller Kraft der Imagination durch Recherchen, Reisen an die Schauplätze und Sammeln von Augenzeugenberichten das „Unvorstellbare“ vorzustellen versucht.

Die letzte Freiheit

„Sie kennen das Ende: Alle sterben.“ – Das Drama beginnt um 8.30 Uhr mit einer harmlosen Entscheidung: Auf Drängen seiner beiden Söhne Jerry und David beschließt der Immobilienmakler Carthew Yorston, gemeinsam im Luxusrestaurant „Windows o­n the World“ im Nordturm des World Trade Centers zu frühstücken. Um 8.46 Uhr müssen die drei beobachten, wie die erste entführte Boeing in den Nordturm rast. Während Carthew verzweifelt versucht, im flammenden Inferno im Inneren des Turmes seine Familie zu retten und letztendlich an einer versperrten Tür zum Dach des Turmes scheitert, auf der in großen Lettern „Emergency Exit“ prangt, lässt er sein zerrüttetes Leben in Gedanken Revue passieren. Kurz bevor um 10.28 Uhr der Nordturm als zweiter der Twin Towers einstürzt, springt Carthew mit seinen Söhnen durch ein zerborstenes Fenster „in die letzte Freiheit“, die ihm geblieben ist.

In 119 Kapiteln, die den 119 Minuten vom Betreten des Restaurants bis zum Einsturz des Gebäudes entsprechen, folgt Beigbeder sowohl den Gedanken seines Protagonisten, des fiktiven Immobilienmaklers Carthew im Turmrestaurant, als auch seinen eigenen Spekulationen und Theorien zum Terroranschlag, zu seiner Generation und zum Zustand der Welt: Vielleicht begann 2001 ja der Niedergang des Kapitalismus, genauso wie 1989 der des Kommunismus nach dem Fall der Berliner Mauer?

Harmlose Stilspielereien

Doch Beigbeder ist zu harmlos. Der Ex-Werber verliert sich oft in den für ihn üblichen Stilspielereien, die häufig die Qualität brillanter Werbeslogans haben, aber den Ernst der Lage überdecken. Kurze Momente der Eindringlichkeit verdankt Beigbeder allein der tragischen Gewalt des Stoffes, die eine doppelte ist: Zum einen ist es die Dramatik einer mit menschengeschaffener Technik herbeigeführten Katastrophe, die die Beteiligten in den sicheren Tod führt – ein Motiv, das auch den Untergang der Titanic zum großen Stoff unendlich vieler Filme und Romane gemacht hat –, zum anderen ist es das Wissen um die reale, vernichtende und menschenverachtende Gewalt der wirklich und erst vor wenigen Jahren geschehenen Terroranschläge, die jeder Leser genau in Erinnerung hat.

Beigbeders fünfter Roman ist wie alle seine Werke von höchst schwankender Qualität. Aber er besetzt damit eine Position, an die sich kein anderer Schriftsteller herangewagt hat. Windows o­n the World ist zwar nicht der, sondern nur ein Roman zum 11. September, aber immerhin der erste. Ihm werden viele folgen, je mehr historische Distanz zum Thema vorhanden ist. Irgendwann wird man dann sogar einen Hollywoodstar in einem der Türme sterben lassen wie Leonardo DiCaprio im Eismeer nach dem Untergang der Titanic. Spätestens dann wird einem der Wert von Beigbeders Roman bewusst. Denn er versucht immerhin, dem sensiblen Thema mehr abzugewinnen als eine klassische Tragödie großen Stils.

Markus Kuhn

Frédéric Beigbeder: Windows o­n the World.
Aus dem Französischen von Brigitte Große.
Ullstein Verlag 2004.
Gebunden. 351 Seiten. 22 Euro.

19.07.2004