Abschiedsworte
Eine Sammlung von Nachrufen auf verstorbene Schriftsteller, Musiker, Filmregisseure und Journalisten aus den letzten dreissig Jahren.
In dem wunderbaren Roman von Antonio Tabuchi „Erklärt Peireira“ gibt es einen arbeitslosen Journalisten, der sich bei einer Tageszeitung bewirbt, weil er spezialisiert sei auf Nekrologe. Da nun mal auch der berühmteste Zeitgenosse irgendwann einmal sterben wird, ist das Verfassen von Nachrufen ein krisenunabhängiges journalistisches Genre. Aber von dieser profanen Sicht einmal abgesehen, ist das Gedenken eines Verstorbenen, dem die Welt, vielleicht aber auch nur ein kleiner Kreis von Freunden viel verdankt, immer auch eine letzte Geste der Würdigung und des Abschieds.
Von einem, der schon aus professionellen Gründen für das Abfassen oft sehr plötzlich geforderter Nachrufe zuständig ist, liegt jetzt eine Sammlung von letzten Würdigungen und Danksagungen vor. Dass das deutsche Radio-Feuilleton – bis jetzt jedenfalls – ein auch im internationalen Massstab überragendes Niveau besitzt, ist auch Journalisten wie Hanjo Kesting zu verdanken. Seit vielen Jahrzehnten leitet er die Kulturredaktion des NDR-Rundfunks in Hannover. Und wenn heute ‚Hörbücher‘ auf eine so erstaunliche Resonanz treffen, darf man auch die Verdienste eines Hanjo Kesting nicht vergessen. Er ist als Redakteur für die Lesungen fast der gesamten deutschen Literaturklassik verantwortlich. Und deshalb ist es auch kein Zufall, dass der längste Nekrolog in seinem Band Gert Westphal, dem ‚König der Rezitatoren‘ gewidmet ist. Seine Gedenkrede auf den Ende 2002 verstorbenen Schauspieler mit der begnadeten Stimme ist eine einzige Hommage nicht nur auf einen Freund, sondern auch auf eine Theater- und Rundfunkkultur, die immer mehr im Schwinden begriffen ist. Und dann muß man nur zur Einstimmung auf diese Sammlung die Namen der Verstorbenen Revue passieren lassen, denen Kesting Nachrufe widmet: Nabokov, Alfred Andersch, Böll, Sebastian Haffner, Primo Levi, Dürrenmatt, Max Frisch , Canetti, Hubert Fichte, Jurek Becker undundund. Neben den Literaten wird besonders der Komponisten und Musiker in dieser Sammlung gedacht: Carl Orff, Herbert von Karajan, luigi Nono, Yehudi Menuhin u.a. Es ist eine wirklich erstaunliche, vor allem aber ehrenwerte, für unsere zeitgenössische Kultur unverzichtbare Reihe von Verstorbenen, an die Kesting hier erinnert. Er läßt sich dabei auch nicht von einem Zeitgeist beeinflussen, nach dem zum Beispiel Autoren wie Peter Brückner, Erich Fried oder Stephan Hermlin zu Lebzeiten in konservativen Milieus als ‚Unpersonen‘ der politischen Kultur in Deutschland galten, nur weil sie sich in einem bestimmten politischen ‚Mainstream‘ nicht einordnen liessen. Dann wird auch an Verstorbene erinnert, die heute fast vollständig aus dem Horizont der Aufmerksamkeit verschwunden sind, zu ihrer Zeit aber für die aufgeklärte und liberale westdeutsche Kultur einen guten und wichtigen Ruf besaßen. Etwa an die im öffentlichen Auftreten so zurückhaltende, aber in der zeitgenössischen Literatur so unbestritten kompetente NDR-Kulturredakteurin Gisela Lindemann. Oder an Axel Eggebrecht, einem Lehrmeister für Generationen von Rundfunkjournalisten nach dem Ende des Krieges. „Man gibt die eigene kritische Einsicht nicht preis“, heißt es im letzten Satz der Vorbemerkung von Hanjo Kesting, „wenn man sich im Augenblick eines Todes eingesteht, daß die Grundmelodie der Abschiedsmusik von Dankbarkeit bestimmt ist.“
Und der Leser dieses auch in der Aufmachung so liebevoll gestalteten Buches ergänzt, dass man den Autor und den Verlag für die Edition dieser Sammlung von Nachrufen aus den letzten Jahrzehnten zu großem Dank verpflichtet ist.
Carl Wilhelm Macke
Hanjo Kesting: Abschiedsmusik. Nachrufe aus dreissig Jahren (1973 – 2003). Wehrhahn-Verlag, Gebunden mit Schutzumschlag. 319 S. 18,00 Euro, ISBN 3–86525–100–5