„Ob ich morgen wohl weiterschreibe? Ich bin wahnsinnig, wenn ich es tue!“
Diese manischen Aufzeichnungen sind auch Betrachtungen aus einem inneren Exil, in dem das, was nicht gesagt oder geschrieben werden darf, herausbricht wie ein Beben. MATTHIAS PENZEL über Hans Falladas intensives Gefängnistagebuch In meinem fremden Land
Da sind zum einen die Titel, die wie Evergreens klingen, wie Ohrwürmer oder geflügelte Worte, bei denen man oft gar nicht so recht weiß, ob der Autor sie erfunden – oder ’nur’ gefunden – hat. Zum anderen ist da dieses bewegende, da verstörende Leben im Rausch, ewiges Leiden, früh schon Zwangseinweisungen … und dann sind da die Bücher selbst. In den Regalen von Menschen, die noch Kriege miterlebt haben, also oft nicht mehr in heimischen Regalen, sondern in Antiquariaten, oder bei Ramschläden in Bananenkisten vor der Tür.
Im Märchen wird dem Pferd Fallada der Kopf abgehackt
Der Unglücksvogel Rudolf Ditzen benannte sich nach dem Hans-im-Glück und dem Pferd Fallada, das im Märchen die Wahrheit spricht, selbst nach seinem Tod. Fallada war – oder ist? – ohne Frage ein Klassiker. Für einen Klassiker war er aber – nur für mich oder besonders in der BRD? – seltsam abgemeldet in Schullektüre oder Alltag der letzten Jahrzehnte. Der Trinker war im Buchhandel noch leicht zu finden, doch andere Titel Falladas, so schien mir, kamen erst mit dem Mauerfall dank Aufbau-Verlag wieder in den Buchhandel. Unabhängig davon, wie wahr oder subjektiv diese Sicht auf die Rezeption Falladas ist: Anfang der 1930er-Jahre war er – Dank Kleiner Mann – was nun? weltberühmt. Der Rowohlt-Verlag machte mit ihm Kasse, man könnte sagen, was Hesse nach dem Krieg für den Suhrkamp-Verlag wurde, etwas in der Art war Fallada für Rowohlt vor dem Dritten Reich: der Geldbringer. Mit unterhaltenden Romanen über den kleinen Mann, auch Bauern, Bonzen und Bomben, Alltag und Abwasch.
Dann ist da noch der andere Fallada. Von dem habe ich einmal einen Essay gelesen, abgedruckt in einem Programmheft zu einer Theateraufführung in Ost-Berlin, das Heft ranzig, weil es bei einem Dönerladen in Kreuzberg so lange zwischen zerblätterten Illustrierten, ADAC Motorwelt und Gala, gelegen hatte. Dieser Essay, ich meine, über die Geschwister Scholl, vielleicht auch nur über Widerstand nach 1933 allgemein, vielleicht auch über Moral und Verantwortung, Wahrheit und Ekel, war so, dass ich ihn sofort klauen wollte; dass ich dann aber fand, möglichst viele andere müssten ihn lesen; weshalb ich ihn nicht mitsamt Programmheft mitnahm – mir aber vornahm, Fallada im Auge zu behalten. In meinem fremden Land ist nun das Buch, das nicht nur jeder, der Fallada kennt und schätzt, lesen muss, sondern auch das Buch, das jeder lesen sollte, der in Deutschland lebt und sich immer wieder wundert, wie der kleine Alltag weitergehen konnte, wie von 1933 bis 1945 Menschen lebten und liebten, ja: Menschen geboren wurden. Es ist ein Buch für die, die sich fragen, wie nach Auschwitz Gedichte geschrieben und Autobahnen gebaut werden konnten, wie alles weiterging, bei Verlagen auch mit weniger Unterhaltung vielleicht, aber doch so wie zuvor.
Im Märchen spricht das Pferd nach seinem Tod weiter, Fallada weiß: Jeder stirbt für sich allein
In meinem fremden Land. Gefängnistagebuch 1944 ist unter irren Bedingungen entstanden. In ein Gefängnis für geisteskranke Kriminelle war Fallada eingewiesen worden, zur Beobachtung auf unbestimmte Zeit. Er hat Glück und erhält 92 Bögen Papier. Er kann schreiben. Unter Beobachtung: „Alle zehn Minuten etwa kommt ein Wachtmeister in meine Zelle, sieht neugierig auf mein Gekritzel und fragt mich, was ich schreibe? Ich sage: ‚Eine Geschichte für Kinder‘ und schreibe weiter.“ Er kritzelt so klein und unleserlich, dass die Wächter schnell aufgeben, darin zu lesen. Erst einige Kurzgeschichten, dann einen Roman …
„Und dann kam es über mich, daß ich hier, ausgerechnet in diesem Haus, bewacht und belauert, mit diesen Aufzeichnungen beginnen mußte. So lange schon trug ich sie mit mir herum. Ich muß einfach. Und weiß, daß ich wahnsinnig bin. Ich gefährde nicht nur mein Leben, ich gefährde, wie ich immer mehr beim Weiterschreiben merke, das Leben vieler.“
Und dann schreibt er, was ihm zu den Jahren ab 1933 einfällt, voller Kürzel, kalligraphisch kompliziert, kaum zu entziffern. Pro Seite schreibt er 24 Zeilen in Sütterlin. Als alle Bögen voll sind, dreht er das Blatt um und schreibt in Druckschrift zwischen den Zeilen weiter, in winziger Schrift, mit Punkt und Komma, aber ohne Absätze. Jeder verbleibende Leerraum wird genutzt. Keine Unterhaltung, keine Geschichte für Kinder. „Ich muß sie schreiben […] Lieber jetzt, wenn auch unter Lebensgefahr.“
1939 noch Kleiner Mann – großer Mann, alles vertauscht, fünf Jahre darauf eingekerkert
Er schreibt manisch. So wie er immer geschrieben hat (praktisch jeden Roman in Wochen). Er berichtet nicht, wie er von der Schule geflogen ist, weil er einem Mädchen einen unangemessenen Brief geschrieben hat, wie er einsitzen musste, weil er einen Doppel-Selbstmord-Pakt, in einer Art Duell, als einziger überlebte, er erinnert auch nicht, wie er ganz tief unten war, wieder einsaß usw. Er beginnt mit dem Frühjahr 1933. „Damals aber schwätzten wir und lachten wir, die Welt schien uns herrlich, wir standen erst im Anfang, wir waren erst im Kommen, die Möglichkeiten des Lebens schienen unerschöpflich. Wir rauchten unzählige Zigaretten, wir tranken Wein oder Whisky … wir schrieen uns an: ‚Haben Sie das gelesen? Und das?‘“ Ja, das war Berlin, das war Deutschland. Dass sich der Horror schon vorher – parallel zum kleinen Glück – abzeichnete, wusste Fallada freilich schon Jahre zuvor. „Das ist Deutschland“ staunte Tucholsky 1931 in der Weltbühne über Falladas Bauern, Bonzen und Bomben – in dem nicht Autoren-Zirkel debattieren, sondern ein Bauernaufstand niedergeschlagen wird, in dem Blut fließt. Fallada hat davon berichtet. Aber er war kein Märtyrer. Als Tucholsky, Joseph Roth und andere Berlin verlassen hatten, suchte er – der Volksdichter – noch in seinem Eigenheim nach dem kleinen Glück allein.
Ein Fehler.
Auch andere blieben. Und hier wird es spannend. Während Thomas Mann im Exil seinen Marzipanfinger mahnend erhebt, bewegen sich – vorsichtig, aber immer noch – andere, die zum Teil auch Nachkriegsgeschichte geschrieben haben: Ernst Rowohlt, Peter Suhrkamp, Samuel Fischer. Auch von e.o. plauen und dessen grauenhaftem Tod berichtet Fallada. Mit ausgenüchtertem, kargen Stil – so dass es einen umhaut.
Die Aufzeichnungen sind auch Betrachtungen aus einem inneren Exil, in dem das, was nicht gesagt oder geschrieben werden darf, herausbricht wie ein Beben. Das heißt: Das mit dem kargen Stil stimmt nicht. Fallada ist nur eben – vollkommen nachvollziehbar, wenn man sich seinen Schreibtisch vorstellt, eine Pritsche, vor der er kniet, während er fieberhaft seine Erinnerungen niederschreibt – nicht nach blumiger Sprache zumute.
„Sein Körper“, schreibt er über Peter Suhrkamp, „war durch jahrelange Entbehrungen wie ausgebrannt, Leder und Knochen.“ Kurz darauf, mehr auf den Punkt: Er „lernte das jämmerliche Warten in den Vorzimmern der Redaktionen kennen, die Jagd nach dem Artikel, das Zeilenschinden, das verächtliche Benehmen der Erfolgreichen, ihr sturer Boykott gegen den Mann, in dem sie einen Könner witterten. […] Magazine […] von Amerika importierte Mode […] viele Bilder, schöne Landschaften und schöne Mädchen, diese mehr oder weniger ausgezogen, meist mehr.“ Oder, immer noch das Verlagswesen in den Grenzbereichen der Nazidikatatur, über die Neue Rundschau: „Früher, vor Jahrzehnten, war diese Zeitschrift jung und lebensprühend gewesen, allmählich war sie dann in die reiferen Mannesjahre gekommen, und nun hatte schon manchmal der abgeklärte Schimmer des Greisenalters über ihren Seiten gelegen, kurz gesagt, sie war trotz ihres immer noch hohen Ansehens, ein ganz klein wenig langweilig geworden.“
Die Wahrheit im Wintermärchen
Ja, das war Deutschland.
Etwa ab der Mitte werden die Aufzeichnungen aus dem Irrenhaus zu einem Buch über die zwei Fraktionen, die nach dem Dritten Reich ihre Positionen – als daheimgebliebene Mitmacher oder Exilanten – verteidigten. Fallada blieb. Den Nazis war er wohl zu populär und nicht oppositionell genug, um sofort umgebracht zu werden. Doch Fallada wurde schon sehr früh schikaniert. So wie die allermeisten Menschen interessierte er sich nicht wirklich für Politik, ärgerte sich über die Nazis, erfreute sich aber an seinem kleinen Glück in einer Villa auf dem Land. So wie die meisten Menschen hatte er Freunde, mochte einiges an seinem Vaterland und dessen Traditionen … und blendete, was ihm missfiel gelegentlich aus.
Die Zeiten waren grausam, dass die Führungskader der Nazis noch extremer werden könnten, hielt er für unvorstellbar. 1944 weiß er, wie sehr er sich geirrt hat. Und so sind seine Aufzeichnungen, zwischen den Zeilen weiter- und weitergeschrieben, so dass einen schon der Anblick eines Faksimiles davon tief berührt, so sind diese Zeilen immer auch Verteidigung seiner Haltung, aber auch ein Fingern nach Erklärungen, ein Klammern nach etwas Normalität in dem kompletten Irrsinn und Morden, ein Richten über Denunzianten und Duckmäuser, sie sind ein Horrortrip durch die Macken und Eigenschaften deutschen Gemüts, die Katakomben der Gesinnung, Bombenkeller der Wirklichkeit. All das, was man so gerne ausblendet.
Zwischen den Zeilen wurde das nicht nur geschrieben, weiterhin vibriert es zwischen den Zeilen und an den Rändern ungemein: Denn das ist natürlich nicht bloße Geschichte, nicht nur die Geschichte von einem, der sich eben einen Moment lang als „kleiner Schreiber“ der Verantwortung zu entziehen sucht, der dann narzisstisch wie jeder Künstler ist, politisch auch in politischem Desinteresse … eben ein Mensch mit seinen Macken. Gelegentlich, wenn einen der Wahn mancher Szene am Weiterlesen hindert, schaut man dann auf, denkt nach über das Jammern auf dem vermeintlich hohen Niveau, wie jämmerlich sich heute eigentlich Talentierte kompromittieren, wie sie den Bückling machen für weit weniger als das Retten ihres Lebens, sondern einfach nur für etwas mehr Geld; wie mancher Künstler oder Schreiber heute Wahrheit und Ehrlichkeit über Bord wirft, um dafür etwas vermeintliche Sicherheit und Ruhe von der Rentenkasse zu erhalten …
In meinem fremden Land ist auch deshalb mehr als 60 Jahre nach seiner Entstehung heute noch relevant, weil zwischen den Zeilen so viel stattfindet, so viele Informationen sind, so viele Meinungen, Reflexionen und – menschliche – Rechtfertigungen, also quasi Umschreibungen der Wahrheit. Aber vielleicht ist eben das auch das Problem mit der Wahrheit: Im Märchen lässt sie sich leichter einfangen?
Am Rande ist hervorzuheben, quasi in den Marginalien, dass die Fußnoten und Erklärungen der Herausgeberinnen Jenny Williams und Sabine Lange äußerst erhellend sind.
*Die Briefmarke zum 100. Geburtstag Falladas zeigt eine Porträtkarikatur von e.o.plauen
Matthias Penzel
Hans Fallada: In meinem fremden Land: Gefängnistagebuch 1944 (Hrsg.: Jenny Williams und Sabine Lange).
Berlin: Aufbau-Verlag 2009. 333 Seiten. 24,95 Euro.